Das Licht im Dunkel
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Das Licht im Dunkel

Ein RPG in kleiner Runde, welches sich noch im Aufbau befindet. - Das Rpg wird in Plots gespielt.
 
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 Biscuit

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Nelly

Nelly


Anzahl der Beiträge : 622
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PostSubject: Biscuit   Biscuit EmptyTue Aug 10, 2010 8:31 pm

Biscuit
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Je ne sais pas l'amour





























Es gibt Menschen, denen man begegnet, und die man sofort darauf wieder vergisst. Man sieht in ihre Gesichter, liest ihre Geschichten, berührt ihre Haut, aber nichts davon bleibt im Gedächtnis hängen.
Man vermisst sie nicht.
Sie fehlen nicht.
Für derartige, fremde Menschen empfindet man nach jener ersten Begegnung weder ab- noch Zuneigung. Man denkt nicht weiter darüber nach. Bevor man gemeinsame Erinnerungen machen konnte, sind sie vergessen, und verschwinden irgendwo in den tiefen des Gedächtnisses. Ungebraucht.
Daneben gibt es Menschen, die man nicht vergisst. Die einem nicht aus dem Kopf gehen. Von Anfang an. Sie brennen sich in die Gedanken ein, bleiben, und verwüsten alles, was ihnen in die Quere kommt. Sie wühlen die Menschen auf. Hinterlassen Schmerz und Verwirrung, und ein Gefühl, das ich damals noch nicht beschreiben konnte.
Es gab so einen Menschen, den ich nicht vergaß. Einen Menschen, von dem ich manchmal dachte, dass ich ihn besser vergessen würde. Aber so ist das nun mal, mit den Erinnerungen - vergessen war nicht so einfach, wie es eigentlich sein sollte.

Paris ist die Stadt der Liebe.
War es immer, und wird es immer sein. Unwiderruflich, und wenn man nicht dort gewesen war, konnte niemand recht sagen, wieso es zutraf. Oder wieso nicht. Es gibt viele Leute, die in Paris ihre einzig wahre Liebe finden. Und es gibt ebenso viele, die sie dort wieder verlieren.
Das war es, was ich dachte.
Ich habe nie an die große Liebe geglaubt. An den einzig Wahren, der eines Tages auftauchen würde, und in den ich mich sofort verlieben würde. Hals über Kopf, und unvernünftig, wie die Liebe es war.
Ich hatte nie von der Liebe gekostet, nie ihre süßen Lippen geküsst, und niemals nur daran gedacht, dass so etwas Körperloses in dieser Stadt auf mich warten würde.
Sie wartete.
Vermutlich wartete sie sogar ziemlich lang auf mich. Ich kann nicht von mir behaupten, dass es mir je Leid getan hätte. Aber ich traf sie, an einem sonnigen Tag, mitten in Paris. An einem Ort, an dem man die Sonne nicht sehen konnte. Unten, an dem kleinen und billigen Kiosk in der Metrostation der Innenstadt.
Haben sie ihre Liebe bereits gefunden? Vielleicht in Paris? In Frankreich, wo man eine Sprache sprach, die man nur verstehen konnte, wenn man sie selbst wirklich sprach?
Ich werde ihnen von meiner Geschichte erzählen. Seien sie so frei mir zuzuhören, solange sie wollen. Wenn ich an die Ironie der Sache denke, muss ich noch immer lachen. Entschuldigen sie, wenn das unhöflich klingen mag. Aber kehren wir zurück zu der Metro.





-.- Trouver -.-

Wie ich bereits erwähnt hatte, schien an diesem Tag die Sonne. Es war ein warmer Sommer, mit erfrischend kühlem Wind, und noch während ich in der fahrenden Metro saß, und mich mit aller Kraft an einer der Stangen festklammerte, um nicht gegen meinen Zeitung-Lesenden Nebenmann geschleudert zu werden, hoffte ich inständig bald unter freiem Himmel zu sein. Die Sonne zu sehen. Paris' Luft einzuatmen, die nicht nennenswert klar oder schön ist.
Im Grunde ist sie staubig. Ich mochte den Geruch der Straßen. Den Geruch der Stadt. Das stetige Leben, das hier durch jede Straße floss, mit hunderten Stimmen und Gesichtern.
Jetzt im Sommer war die Stadt überflutet von Touristen.
Sie hielten ihre Umwelt wann sie nur konnten mit hunderten Kameras fest, in hunderten Bildern, und so verschwendete ich meine Konzentration in der Metro darauf, nicht von einem jener Bilder erfasst zu werden, während ich hin und her geworfen wurde und versuchte, einen Blick auf die Zeitung meines Nebenmannes zu werfen.
"Taschendiebe in der Metro werden dreister", verkündete der Matin.
Ich umklammerte die Kette an meinem Hals. Beruhigend drückten die silbernen Glieder gegen meine Haut, als die Metro zum stehen kam und ich beinahe das Gleichgewicht in der Menge verlor.
Ich stolperte mehr aus dem Zug. Wurde von etlichen fremden Körpern herausgedrängt, wie ein Blatt in der Strömung eines Flusses.
Es war nicht gerade angenehm zu vollen Betriebszeiten mit der Metro zu fahren.
Der Wagen sauste davon und hinterließ einen lauwarmen Wind in der Station, der nach staubiger, abgestandener Luft roch.
Ich verzog das Gesicht. Der Wind pustete mir ein paar Locken ins Gesicht.
Ganz alltäglich machte ich mich daran, meine Taschen kurz zu kontrollieren um dann auf besagten kleinen Kiosk in der Metrostation zuzugehen, an dem ich mir nahezu jeden Tag einen Kaffee holte, nur um ein wenig Zeit zu töten. Gut war der Kaffee nicht. Aber er war billig, schmeckte auch so, und während ich mich auf einen der Hocker an den hohen, schmutzigen Tischen setzte, konnte ich die Leute um mich herum betrachten.
Den Kopf auf eine Hand stützen.
Ein junges Paar stritt sich nicht allzu weit von dem Kiosk entfernt. Sie schrieen sich an. Ihr war das blonde Haar ins Gesicht gefallen. Er versuchte es zurückzustreichen, sie schlug seine Hand weg. Weinend. Schreiend. Völlig aufgewühlt.
"Je ne veux plus! Je ne t'aime plus!"
Er murmelte ihren Namen. Außer sich, neben sich. Ich war mir nicht sicher, ob er sie überhaupt sehen konnte. Amelie hieß sie. Er wiederholte es wieder und wieder, sodass ich nicht wusste, wer mir mehr Leid tat. Ob mir überhaupt einer von ihnen Leid tun sollte.
Ich redete mir ein nicht zu verstehen, wieso es ihnen schmerzte. Wenn etwas vorbei war, war es vorbei. Endgültig, es gab keinen Grund, der Vergangenheit nach zu trauern. Der Anhänger meiner Kette, den ich umklammerte, stach mir brennend in die Haut. Ich ließ ihn los. Erhob mich um mir eine Zeitung zu kaufen, nachdem ich die Überschrift in der Metro bereits gelesen hatte.
Am Kiosk stand eine Person in einem dunklen Mantel, und wuscheligen Haaren, der sich mit einem schwer zu beschreibenden Hundeblick zu mir umdrehte und bei seinem Versuch mit seinem Kaffee auf einen der Tische zuzugehen, prompt gegen mich stieß.
Ich spürte einen kurzen Luftzug. Das leichte Ziehen in meiner Seite. Der Mann entschuldigte sich mit einem knappen Murmeln und machte Anstalten davon zu gehen.
Meine Hand zuckte zu dem Platz, an dem meine Kette hätte sein sollen, und als ich sie dort nicht fand, einen kurzen Schwindel verspürte, packte ich grob das Handgelenk des Fremden und drehte es nach oben. Hielt ihn fest.
"Sie haben da etwas, das mir gehört."
Ich war mir ziemlich sicher. Einen Moment zuvor war sie zumindest noch da gewesen.
der Fremde lächelte schief.
Er hatte wirklich wuschelige Haare, lockig und in einem dunklen Braun. Wirkte völlig harmlos. Tollpatschig. "Verzeihen sie, Mademoiselle, aber sie müssen sich täuschen."
Selbst er musste gewusst haben, dass ich ihn nicht so einfach loslassen würde.
"Äh...Entschuldigung, aber darf ich jetzt...?"
Ein Nicken zu seinem Kaffee, der bedrohlich geneigt war. Ich verzog die Lippen zu einem Grinsen.
"Nicht, bevor ich meine Kette nicht wiederhabe."
Mit der noch freien Hand tastete ich seine Manteltaschen ab. Fand nichts. Der junge Mann seufzte.
"Bitte. Aber wenn sie mich nicht loslassen, könnte ich den Kaffee noch verschütten."
Mein Grinsen wurde breiter. Ich ließ seine Hand los, schlug mit der anderen beiläufig beim zurückziehen gegen den Becher Kaffee und sog augenblicklich darauf scharf die Luft ein, als die heiße Flüssigkeit sich über meine Bluse ergoss.
Der Fremde starrte mich verständnislos an. "Ihre Bluse...ist voller Kaffee."
Ganz unnötigerweise.
"Ich weiß.", gab ich bissig zurück. Packte ihn am Kragen. Die umstehenden betrachteten uns mit großen Augen. Mich störte es nicht. Ihre Blicke waren wie die von Fischen. Dumm, und nicht wirklich zielgerichtet. Wenn ich daran dachte, konnte ich fast schon darüber lachen. Er nicht. Warf einen Blick in die Runde. "Die Kette.", verlangte ich erneut. Meine Hände fuhren in seine Hosen und Manteltaschen, aber in keiner von ihnen konnte ich meinen Schatz finden.
Ich musste ziemlich beleidigt aussehen.
Der junge Mann löste sanft meine Hand von seinem Kragen.
"Hören sie, das mit der Bluse tut mir wirklich Leid, aber ich sollte jetzt gehen. Sie können das sicher wieder waschen."
"Sie sollten dafür bezahlen.", hielt ich ihn zurück. Er zuckte unschuldig die Schultern.
"Ich habe kein Geld für eine Reinigung dabei. Aber wenn sie es mir jetzt mitgeben, kann ich die Bluse bis morgen natürlich waschen."
Vermutlich hatte weder er, noch die umstehenden, noch ich damit gerechnet, dass ich wirklich zu den Knöpfen meiner Bluse griff, und vor laufender Überwachungskamera zwei davon öffnete. Drei. Vier.
Die Augen des Diebes wurden einen Moment lang vor Überraschung immer größer, dann begann er zu lachen. Hielt mit sanfter Gewalt meine Hand fest, und ich schaute so ungerührt drein, wie ich konnte.
"Das sollten sie lieber lassen. Sie wollen doch nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses festgenommen werden?"
Ich sah ihm direkt in die braunen Hundeaugen, mit einem süffisanten Lächeln das ihn stutzen ließ. "Das wird schon nicht passieren."
Die Knöpfe schloss ich trotzdem erneut, und ließ zu, dass er mit einer Serviette grob meine Bluse abtupfte. Ich mit einem skeptischen Stirnrunzeln, er mit einem Grinsen.
"Und sie haben meine Kette sicher nicht?"
"Nein."
"Ich brauche diese Kette wirklich zurück. Und ich kriege sie zurück. Ich bin mir sicher, dass sie sie haben."
"Ich bitte sie. Ich bin doch kein Dieb. Und wenn sie mich jetzt entschuldigen würden..."
Notgedrungen ließ ich ihn los. Meine Hand fühlte sich kraftlos an, so sehr hatte ich den Stoff seines Mantels zeitweise umklammert. Unter dem wütenden Blick des Kioskbesitzers ließ ich ihn ziehen und konnte die Verzweiflung eben noch unterdrücken.
Meine Kette war weg.
Mein aller wichtigster Besitz. Die Kette. Die Kette.
Ich dachte an nichts anderes, auch nicht, als der Fremde sich drei Meter weiter noch einmal zu mir umwandte und mit einem schiefen Lächeln nach meinem Namen fragte.
"Luise!", brüllte ich ihm hinterher. Er deutete eine Verbeugung an. Verschwand, und rempelte auf dem Weg aus der Metrostation unter stetigen Entschuldigungen einen ebenso überraschten Passanten an.
Erst als er weg war bemerkte ich, dass mir neben der Kette auch zwei Armbänder fehlten.

Ich verbrachte den Abend des beschriebenen Tages zu Hause. In meinem Appartement herrschte eine ungewohnte Stille, die ich auf meine eigene Laune schrieb. Die beiden Hunde, die sonst laut bellend durch die Wohnung liefen und den halben Tag um die Aufmerksamkeit bettelten, die sie meistens nicht verdient hatten, saßen da, lagen mehr oder minder halb übereinander, und musterte mich aus großen Augen, die fast schon vorwurfsvoll dreinschauten.
Ich erwiderte den Blick ungerührt während ich meine Teetasse leerte, mich daran verschluckte und fluchend auf den Tisch, und damit auf die ursprünglich weiße Bluse schlug, die ich darauf ausgebreitet hatte.
Zwischen Schulter und Wange hatte ich das Telefon hängen, aus der mir die Stimme meines Vatersentgegenschallte.
Freundlich klang es nicht.
„Du rufst zu selten an, Mädchen. Ich weiß ja kaum, wie es dir geht, und es ist nicht so, als würden wir uns auf der Arbeit dauernd sehen.“
Das taten wir wirklich nicht. Und Gott sei gedankt, dass dem so war. Falsch verstehen darf man das nicht. Ich schätzte meinen Vater sehr, liebte ihn, wie man seinen Vater nun einmal lieben sollte, aber so wie viele Väter – insbesondere die Alleinerziehenden – war er oftmals zu fürsorglich. Geradezu aufdringlich.
„Was ist los? Du klangst gerade so aufgebracht. Luise? Luise!“
Ich hob mir das Telefon vom Kopf weg während ich meinen Spüllappen verbissen über den Kaffeefleck rieb. Ich hätte das Ding in die Waschmaschine werfen können. Ganz einfach. Aber aus irgendeinem Grund sah ich diesen Fleck und meine fehlende Kette als fatale Beleidigung. Ich würde die Kette also selbst zurück bekommen, und ich würde selbst diesen Fleck entfernen, der schwerer heraus zu bekommen war als ich ursprünglich gedacht hatte.
„Tut mir Leid, Papa, ich bin nur etwas beschäftigt. Ich habe mir heute Kaffee auf die Bluse geschüttet.“
Mit zusammen gebissenen Zähnen schimpfte ich über die Bluse. Vor meinem Inneren Auge konnte ich geradezu sehen wie mein Vater ungläubig den Kopf schüttelte, sein Gesicht sich ein wenig roter färbte und er mit einer Hand auf den Tisch schlug.
„Luise, du bist doch sonst nicht so tollpatschig.“
„Ich bin in der Metro mit jemandem zusammen gestoßen, und da hat er Kaffee über meine Bluse geschüttet.“, klärte ich die Sache auf. Fred legte fordernd seine Schnauze auf meinen Schoß und brummte ungeduldig. Ich schob ihn mit einer herrischen Geste weg und stellte das Telefon auf Lautsprecher, gerade rechtzeitig dass die laute Stimme meines Vaters das arme Tier erschrecken konnte. Bellend verschwand Fred zu seinem Bruder hinter das Sofa, von dem sie die Kissen gewaltsam weggezogen hatten, nur um sie später hin und her zu werfen.
„Sei vorsichtig in der Metro! Da laufen Taschendiebe herum. Und die sind dreist, das glaubt man gar nicht. Wenn dich da jemand anrempelt solltest du gleich kontrollieren, ob du noch alles bei dir trägst.“
Ich hatte erwähnt, dass er übervorsichtig war? Aber in dieser einen Sache hatte er Recht. Ich dachte bitter daran zurück dass mein Hals kettenlos war, und dieser Mann nebenbei auch noch zwei meiner Armbänder geklaut hatte. Diese allerdings waren unwichtig. Die Kette dafür umso mehr. Mir stiegen kurz die Tränen in die Augen als ich daran dachte. Ich deckte das Telefon mit einer Hand zu und biss mir auf die Unterlippe, um nicht im Gespräch mit meinem Vater zu schluchzen, der daraufhin keine Ruhe mehr gegeben hätte. Ich wusste es. Ich rechnete es ihm hoch an. Aber ich brauchte es nicht.
„Luise?“
„Habe ich, Papa. Es ist alles in Ordnung, der Typ hat nichts geklaut.“
Die Bluse rutschte in den Staub auf dem Boden. Ich sollte aufräumen, aber gerade heute konnte ich mich nicht begeistern mich auch nur noch ein Stück zu bewegen, bis ich diese Bluse sauber bekommen hatte.
In meiner Küche roch es mittlerweile unangenehm nach den verschiedensten Putz- und Spülmitteln die allesamt nicht wirklich geholfen hatten. Nicht so, dass ich zufrieden gewesen wäre. Der blasse Fleck blieb. Fluchend riss ich die Bluse vom Boden weg und schleuderte sie in die Spüle. Pustete eine dunkle Strähne aus meinem Gesicht und warf einen Blick in die Fensterscheibe, die das Abbild meiner Wohnung in ihrem Spiegelbild wiedergab.
Das alte, braune Sofa, auf dem sicher schon etliche Leute geschlafen hatten, im laufe der Jahre. Damals waren es Schulfreundinnen gewesen, die nie länger Freundinnen waren als ein Paar Monate, später nur noch Verwandte, die zu Besuch gekommen waren. Meine Cousine zu aller letzt, und diese war treu geblieben. Auf diesem Sofa schliefen mittlerweile beinahe jeden Tag die Hunde. Selbst wenn ich versucht hätte, es ihnen abzugewöhnen, hätte ich es nicht geschafft.
Die Hunde waren gut erzogen. Beinahe. In ihrem Revier machten sie weiterhin was sie wollten.
„Du bist dir sicher, dass es in Ordnung ist? Hast du alles überprüft? Dein Portemonnaie? Kreditkarten? Geld? Schmuck?“
„Alles noch da.“, log ich. „Ich muss nur die Bluse sauber bekommen. Wie läuft es auf dem Revier?“
Ich lenkte ab. Natürlich lenkte ich ab. Die verzweifelten Tränen nahmen mir die Sicht, und so gab ich es letztendlich auf, die Bluse sauber zu bekommen. Sieg für den Dieb. Die Bluse ging an die Waschmaschine.
Wütend trat ich gegen das Tischbein, mit dem einzigen Ergebnis dass ich vor eigenem Schmerz kurz aufheulte und weiterfluchte.
„Was ist heute nur los mit dir? Auf dem Revier läuft alles ganz wunderbar. Wir haben eine ganze Reihe von Beschwerden wegen Taschendieben. Aber das ist halb so wild. Wie es scheint sind sie recht ungefährlich.“
„Ja, sicher. Papa, ich mache jetzt Schluss. Ich muss Jaqueline noch anrufen.“
„Das ist meine Tochter. Schlaf gut, Kleines.“
Papa legte auf und ich sank kraftlos zurück in den Stuhl an meinem Küchentisch, auf dem ich immer tatenlos saß, wenn ich nachdachte. Meistens über einer Tasse Kaffee. Heute über meiner verbildlichten Niederlage gegen den Dieb. Das Schimpfen sparte ich mir als ich eingesehen hatte, dass es mir nichts brachte. Dieser Kerl hatte meine Kette und das war das einzige, das wirklich zählte.
Als es Abend wurde ging ich Joggen um meinen Ärger abzubauen. Die Nachtluft tat gut.
Ich schaffte einen persönlichen Rekord.
















-.- Parler -.-

Am nächsten Morgen beobachtete ich meinen Hauptverdächtigen aus der Ferne. Ich versteckte mich hinter der beweglichen Menge, trank meinen Kaffee stehend und in einiger Entfernung, hinter einer Ecke, dass er mich nicht sah. Den Kaffee in einer Hand tastete ich mit der anderen nach der Kette, die mittlerweile in meiner Hosentasche ruhte, und in meinem Kopf einen stetigen Vorgang des Arbeitens aufrief, der erst stoppen würde, wenn dieser Mann mir verraten hatte, wie er sie bekommen hatte. Die Kette. Und wie er sie zurückgeben hatte. Meinen Schatz.
Ich hatte wie so oft am Morgen meinen Kaffee gekauft. Dunkle Ringe unter den Augen und in jeder Hinsicht schlecht gelaunt, nachdem ich am Vortag ganz offensichtlich gegen meinen Verdächtigen verloren hatte. Der Kioskbesitzer hatte mir mit einem gönnerhaften Lächeln meine geliebte Kette in die Hand gedrückt, mit den Worten, das ein Junge sie gefunden hatte und zum Kiosk gebracht hatte. Schmutzig war sie, und der Verschluss abgebrochen. Der Verkäufer war amüsiert. Ich ließ ihm seine Freude mit einem erstarrten Lächeln, das nicht sonderlich dankbar wirkte, und seither lauerte ich hinter der Ecke. Ungeduldig.
Zu Hause hatte ich fluchend an der Küchenspüle gesessen und den Kaffeefleck aus meiner Bluse heraus gerieben, beinahe schon gewaltsam, während ich mir in Gedanken ausgemalt hatte, wie ich ihn schnappen würde. Meinen Dieb.
Letztendlich erinnerte nur ein blasser brauner Fleck an die Geschehnisse des letzten Tages, und der kaputte Verschluss meiner Kette, die deswegen in der einzigen Tasche meiner Jeans liegen musste. Ich dagegen hatte nichts vergessen. Während die Menschen desinteressiert an mir vorbeiliefen und sich keine Gedanken darum machten, dass irgendwann ein Taschendieb an diesem Kiosk auftauchen würde, war ich vollkommen konzentriert.
Und er tauchte auf. Im selben Mantel wie auch am Vortag, die Haare ebenso durcheinander, die Miene erfüllt von einer fast schon engelsgleichen Unschuld. Ich gab zu, dass er nicht gerade verdächtig aussah. Wenn man jemanden wie ihn ansprach, dann war es, um einen Kaffee mit ihm zu trinken, und nicht um ihn zu beschuldigen. Attraktiv war er durchaus. Und tollpatschig. Als ich ihn mehr auf den Kiosk zustolpern sah, begann ich einen kurzen Moment tatsächlich an meiner Theorie zu zweifeln. Die Zweifel räumte ich beiseite. Ich hatte mir vorgenommen herauszufinden, ob er der schuldige war, und wenn er es war, würde er dafür bezahlen. Irgendwie.
Neben einem Becher Kaffee kaufte er sich eine Zeitung. Fragte am Tisch einer jungen, blonden Frau, deren Hals und Arme mit Schmuck behangen waren, um die Erlaubnis sich zu setzen.
Durch den Lärm der vorbeirauschenden Menschen hörte ich nicht viel. Angestrengt beugte ich mich nach vorn um zu lauschen.
Die Blondine warf ab und an einen neugierigen Blick auf seine Zeitung, während sie in ihr Crossain biss. Bald schon wurden ihre Blicke bemerkt. Mein Verdächtiger faltete die Zeitung zusammen. Sah auf.
"Entschuldigung, wollen sie die Zeitung haben?"
das Mädchen zuckte mit einer verlegenen Entschuldigung zurück. Wehrte mit beiden Händen lächelnd ab.
"Es ist in Ordnung, ich wollte ohnehin gleich gehen und hätte sie weggeworfen."
Er lächelte. Ganz vertrauenswürdig. Die junge Frau entschied sich doch zu einem dankbaren Nicken und wünschte dem Taschendieb einen schönen Tag.
Durch die Kleider der Passanten hindurch versuchte ich zu erkennen, ob dem Mädchen Schmuck fehlte.
Sie trank ihren eigenen Kaffee ganz ungerührt weiter. Durchblätterte arglos die Zeitung.
Nicht nur sie erschrak, als seine Hand sich neben ihrem Kopf vorbei zu dem Tisch streckte und nach dem Kaffeebecher griff. Mit einem entschuldigenden Lächeln zog er seine Hand zurück.
"Hab' meinen Kaffee vergessen."
Ich atmete auf. Sie auch. Und er verabschiedete sich erneut.
Ich blieb noch weitere fünf Minuten in meinem Versteck stehen. Menschen irrten an mir vorbei, die Gesichter gestresst und gelangweilt von ihrem Alltag. Die meisten trugen Anzüge. Andere gewöhnliche Straßenkleidung, wieder andere hatten sich herausgeputzt und schienen an anderen Ecken auf jemanden zu warten. Selbst die, die auf nichts wartete, standen da und warteten trotzdem, wenn sie nicht von der flutenden Menschenmenge mitgerissen werden wollten.
Ich hielt in der Menge die Augen nach ihm offen während ich die Fremden umging um zu dem Kiosk zu gelangen, nicht ohne noch einmal zu kontrollieren ob sein lockiger Schopf in der Nähe noch zu sehen war. Aber so sehr ich auch suchte, ich fand ihn nicht, und so setzte ich mich misstrauisch an den Tisch der jungen Frau, die ganz fasziniert in einen Artikel vertieft war und nicht einmal daran dachte zu mir aufzusehen. Ich überflog den Artikel. Geschrieben wurde darin über magersüchtige Frauen in der Modebranche, wie sie nicht unbedingt selten waren. Darüber das Bild einer völlig abgemagerten Frau, die hätte schön sein können, hätte sie mehr Fleisch auf den Rippen gehabt.
"Jaqueline."
Ich stieß das Mädchen unsanft an. Mit großen Augen sah sie zu mir hoch. "Lui! Hast du das gelesen? Ist das nicht schrecklich? Die Armen Frauen...Ich habe mich umentschieden, Lui, ich werde wohl doch kein Model."
Ich versuchte meine Ungeduld zu verbergen. Zog ihr die Zeitung weg, was sie nur mit einem "hey!" kommentierte.
"Später. Hat er irgendetwas mitgehen lassen?"
"Was?"
Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern auf dem silbern beschichteten Tisch.
"Schmuck, Jaqueline, hat er irgendetwas mitgehen lassen?"
Die Blondine, die ganz nebenbei meine Cousine war, sah an sich selbst herunter. Sie hatte übertrieben mit dem Kleid. Wirkte fast ein wenig zu prunkvoll, aber das wollte ich ihr nicht vorhalten. Spätestens als ihre Lippen ein entgeistertes "Oh" formten, war mir klar geworden, dass sie mir durchaus von Nutzen gewesen war. Die Ohrringe fehlten, die Kette, ein Armband. In meinem Kopf türmten sich die Ideen, wie er an die Schmuckstücke herangekommen sein mochte.
Alle Möglichkeiten die ich fand erschienen mir mal zu simpel, mal zu kompliziert, und alle waren sie aberwitzig und nahezu unmöglich in die Tat um zu setzen. Aber ich legte das Vertrauen in diesen Dieb, dass er einiges fertig brachte. Es hätte mich beleidigt, hätte ich meine Kette an einen völligen Amateur verloren.
Aber er hatte sie mir wiedergegeben. Irgendwie. Spätestens jetzt war ich mir ganz sicher.
Ich lud meine jüngere Cousine zum Dank auf ein Eis ein. Wir saßen in der Rue Jean Rey unter dem Stoffdach einer schlichten Eisdiele, und ich sah abwesend zu wie sie eine überraschend große Menge Schokoladeneis in sich hineinstopfte, das man meinen konnte ihre zierliche Gestalt würde es längst nicht mehr schaffen mehr davon aufzunehmen. Aber Jaqueline bewies das Gegenteil.
Ich drehte meinen Löffel nachdenklich zwischen zwei Fingern und drehte den Blick zu den Menschen die auf dem Bürgersteig an uns vorbeiliefen. Lauschte auf die Stimmen, folgte den vielen Blicken weiter ins Leere.
"Weißt du, ich fand er war wirklich gut aussehend."
"Hm."
"Ich rede von deinem Dieb."
Schockiert sah ich sie mehrere Sekunden lang an. Ich wollte widersprechen, sagen, dass ich mich wohl verhört hätte. Aber allein weil ich ihren Worten in Gedanken zustimmte brachte ich es nicht fertig, sie zu Recht zu weisen.
"Als du mich heute Morgen angerufen hast, dachte ich eher an einen fetten großen Grobian.", erklärte sie und ein weiterer Löffel mit tropfendem Schokoladeneis verschwand zwischen ihren pink geschminkten Lippen.
"Dabei war er richtig nett, und süß und so. Hätte ich das gewusst, hätte ich etwas anderes angezogen."
Es klang fast schon schwärmerisch. Ich starrte den Tisch an und zerriss meine völlig unschuldige Serviette mit beiden Händen um nicht vor ihr rot anzulaufen. Wenn ich es recht betrachtete passte es mir selbst nicht recht, ihn zu verdächtigen. Er gehörte zu den Menschen, von denen man lieber gemocht als gehasst wurde. Aber ich war mir sicher, sehr sicher, und so wurde dieser schon zu kindische Gedanke von ernsteren überschattet. Er war ein dreckiger Dieb, sagte ich mir, und mit seinem Hundeblick wollte er die Leute nur täuschen.
"Und diese Augen!"
"Ah ja, die Augen...", ich seufzte. Und erschrak als ich bemerkte was ich redete. Starrte Jaqueline finster an.
"Jetzt ist aber gut! Für einen Verbrecher schwärmt man nicht. Außerdem hat er dich auch beklaut."
Jaqueline wedelte mit ihrem Löffel herum, die Lippen zu einem Schmollmund verzogen der manche Model tatsächlich neidisch gemacht hätte. Die geschmolzene Schokoladenbrühe von ihrem Löffel landete in einem sauberen Bogen auf dem steinernen Boden unter dem Eisdielendach.
ich spürte schon die wütenden Blicke der Kellner auf mir und warf prompt einen vernichtenden Blick zurück.
"Wer weiß was er dir gestohlen hat."
"Meine Kette."
"Vielleicht dein Herz."
"Ich glaube nicht an Liebe auf den ersten Blick."
Jaqueline seufzte theatralisch und ich wich ihrem Blick so gut es ging aus. Ja, ich hatte nicht vor, mich einfach zu verlieben. Nicht einfach in irgendwen, und nicht einfach, weil dieser Jemand schöne Augen hatte. Ich wollte mich überhaupt nicht verlieben. Wollte mich auf die Arbeit konzentrieren, die ich im Grunde gar nicht hatte. Einige Bienen ließen sich summend auf den roten Blüten der Geranien nieder, die in Blumenkästen am Rande der Eisdiele gediehen.
Selbst hier in Paris würde ich so etwas wie Liebe nicht brauchen. Und eine unerwiderte Liebe auf den ersten Blick wäre nichts als störend. Aus den Augenwinkeln betrachtete ich Jaqueline. Die blonden Locken standen ihr gut, passten zu den schwungvollen Lippen und den dunklen Rehaugen. Ich war nicht wie Jaqueline. ich war nicht schön. Und ich bezweifelte, dass sich jemand auf den ersten Blick in mich verlieben würde.
Die Sorge klang lächerlich.
ich schob sie nachdrücklich in Gedanken beiseite und konzentrierte mich darauf, wie ich meinen Kettendieb schnappen konnte ohne zu großes Aufsehen zu erregen. Er würde mir wenigstens sagen müssen, wie er es gemacht hatte. Die Kette zu nehmen. Und Jaquelines Ohrringe. Im Kopf ging ich das Bild noch einmal durch. Er hatte sich vorgebeugt, um an seinen Kaffee zu kommen, direkt neben ihrem Kopf. Sie war zurückgezuckt. Er hatte die Hand noch einmal zurückgezogen, bevor er letztendlich nach seinem Becher gegriffen hatte.
Kurz weiteten sich meine Augen ein Stück. Der Kaffee. Im Kaffee würde niemand nach etwas suchen. Im Kaffee könnte er eine Kette problemlos mitnehmen, und einen Kaffee hatte er auch gehabt, als er meine Kette genommen hatte.
Finster tauchte ich meinen Finger in Jaquelines Eis, die mit geübten Blicken den Kellner auszuziehen schien wobei sie sich gar nicht mehr auf das Eis konzentrierte, und leckte die kalte und mittlerweile flüssige Schokolade ab.
Jaqueline bemerkte meinen Blick am Ende doch. Musterte mich missbilligend, fast schon tadelnd, und obwohl sie jünger war senkte ich aus reiner Gewohnheit schuldbewusst den Kopf. Mein Blick musste wieder zu eindeutig gewesen zu sein. Jaqueline bohrte zwei Finger in meine Mundwinkel und zog diese nach oben, zu einem Lächeln, das in der Scheibe der Eisdiele gespiegelt wurde und schlichtweg grausam aussah.
„Lui. Wieso suchst du dir keinen Freund?“
„Weilichkinenbruche“, nuschelte ich unter ihrem Griff. Jaqueline sah mich verständnislos an bevor sie losließ.
„Weil ich keinen brauche.“, wiederholte ich schlecht gelaunt. Fuhr mit einer Hand über meinen Mund.
„Oh nein, das ist es nicht.“, widersprach meine Cousine. Die Füße mit den hohen Absätzen legte sie elegant auf einen zweiten Stuhl. Ich warf einen Blick zum Kellner. Jaqueline hatte erreicht, was sie erreichen wollte. Der dunkelhaarige Kellner starrte ihre langen Beine wie von Sinnen an.
„Du denkst zu viel nach. Hör Mal, es wäre ein leichtes für dich, einen Freund zu finden.“
Das Mädchen kannte mich zu gut. Ich verschränkte die Arme. Zog eine Schnute.
„das ist es nicht.“
„Das ist es doch. Du hast zu wenig Selbstvertrauen.“
Sie schwang die Beine von dem Stuhl herunter und lehnte sich über den Tisch zu mir.
„Lui! Du bist die schönste junge Frau die ich kenne. Die Männer sind begeistert von dir!“
„Ich brauche keine Männer.“
Ich sagte es klipp und klar. Eine ganze einfache Aussage. Einen Moment bildete ich mir ein zu sehen, wie der hübsche Kellner die Augenbrauen hochzog und sich ruckartig abwandte.
Wunderbar. Nun traute sich nicht einmal der Kellner, zu uns herüber zu sehen.
Jaqueline seufzte tief.
„Ich schätze du hast den Richtigen einfach noch nicht gefunden.“
„Genau.“
Eigentlich sagte ich es nur, um das Thema abzuschließen. Und eigentlich glaubte ich es doch selbst.
Der Kellner kam um die Bezahlung entgegen zu nehmen. Meinen Blick mied er aus einem mir unerfindlichen Grund ganz direkt und sah stattdessen nur Jaqueline an. Ich versuchte, mich nicht daran zu stören.
„Sag mal“, sagte Jaqueline dann, als wir durch die Straßen schlenderten. Die Menschen schienen meiner Cousine gern Blicke zuzuwerfen, und nahezu jeden Blick erwiderte sie gern. Jaqueline war ein Mensch, der schnell Freunde fand. Ich hatte es schon immer so empfunden, und nie recht verstanden, wieso sie so an mir hing. Aber sie tat es. Irgendwann nach dem Tod meiner Mutter war es zu einer Gewohnheit geworden, dass sie mindestens alle zwei Wochen einmal bei mir übernachtete, und wir die ganze Nacht über die Leute redeten, die ihr begegneten. Ich horchte auf. Wartete gedankenverloren bis sie weiter sprach.
„Was hast du mit diesem Dieb jetzt eigentlich vor?“
Das war eine gute Frage.
In Gedanken zählte ich meine Möglichkeiten auf, jetzt, wo ich auch eine Zeugin hatte, und überlegte mir was die beste Rache war. An diesem Dieb, mit den schönen Hundeaugen.
„Zuerst einmal…ach, ich weiß es doch auch nicht. Aber wenn ich ihn wieder sehe, wird mir schon irgendetwas einfallen.“
„Du könntest ihn verhaften.“
„Nein, das kann ich nicht.“
Ich lächelte schwach. Jaqueline und ich dachten dasselbe. Wenn ich ihn festnehmen wollte, würde ich es auch tun, ob ich es nun durfte oder nicht.
Meine Hand fuhr suchend zurück in die Hosentasche, in der meine Kette ruhte. Irgendwie hatte dieser Dieb sie mir zurück gegeben. Das Irgendwie störte mich nicht so sehr wie die Frage, warum er das getan hatte.
Ganz wertlos war die Kette nicht. Hatte wirkliche, silberne Glieder und einen schönen blauen Stein als Anhänger, der geformt war wie ein Regentropfen und von silbernen Ringen umschlungen wurde.
Von wert war sie vor allem für mich. Ich konnte mir dennoch nicht vorstellen, wieso ein Taschendieb etwas Gestohlenes wiedergeben sollte.
Aus Trotz? Ein Zeichen seines Triumphs? Hatte er sie nur gestohlen, weil er sie stehlen konnte?
Mit einem Seufzen beschloss ich, das so bald wie möglich selbst heraus zu finden.
Jaqueline schien begeistert von der Idee, ich würde den Dieb wieder sehen.

Ich tat es schneller als ich erwartet hätte. Unvorbereitet, und vollkommen unüberlegt. Das einzige was ich sah, war der dunkle Trenchcoat und die lockigen Haare, die kurz in der Menge aufblitzten. Jaqueline und ich hatten eben Anstalten gemacht, um eine Ecke zu biegen.
Im Laufe des Tages hatte ich die zerstörte Kette in Jaquelines Begleitung zu einem Juwelier gebracht, der mir in wenigen Minuten einen neuen Verschluss an die silbernen Glieder reihen konnte. Ich war erleichtert, die Kette wieder an meinem Hals zu spüren. Mittlerweile schien sie regelrecht ein teil von mir geworden zu sein. Dieses einzige Schmuckstück, das meine Mutter mir geschenkt hatte. Die ganze Zeit über umklammere ich glücklich den kalten Stein an der Kette und lief neben Jaqueline durch die Straßen. Ich hatte den Tag damit verbracht, die Kleider in Schaufenstern zu mustern und dabei stetig an meiner eigenen Sportjacke herumgezupft, während Jaqueline den Ihren damit verbracht hatten in die Läden zu laufen und die Dinge zu kaufen, die ich betrachtet hatte.
Gegenüber mir war Jaqueline voller Tatendrang. In jedem Gebiet das man ihr hinwarf, wenn sie darin Romantik oder Schönheit witterte.
Und einen ganz besonderen Narren hatte sie an der Taschendiebgeschichte gefressen, die ich ihr wieder und wieder erzählen musste, und jedes Mal hielt sie mir vor, dass unsere Begegnung Schicksal gewesen sein musste.
Aber ich glaubte nicht an Schicksal. Ich glaubte nicht einmal so recht an die Liebe, auch nicht hier in Paris. In dieser Stadt schienen besonders die Touristen diese Worte nur so um sich zu werfen. Liebe. Diese Stadt hatte verdammt noch mal nichts mit Liebe zu tun. War eine lebende Stadt. Eine schöne Stadt. Aber doch keine Stadt der Liebe!
Ich verfluchte diesen unnützen Titel in Gedanken weiter. Fühlte mich ein wenig ausgeschlossen von allen, die sich verliebt hatten, in die Liebe. Und stattdessen konzentrierte ich mich ganz auf diesen noch namenslosen Dieb. Seinen Namen würde ich bekommen. Irgendwie.
Und schließlich sah ich seinen Kopf mit den Hundeaugen und den braunen Locken mitten in der Menge, gerade dabei hinter einer Ecke zu verschwinden, und ich ließ meine Cousine mitten auf der Straße stehen um hinter ihm her zu rennen.
Es tat gut, zu laufen. Den Wind zu spüren. Ich sah die Gesichter der Menschen an mir vorbeirauschen. Wurde schneller, war fast versucht, trotz des lebendigen Chaos in den Straßen für einen Moment die Augen zu schließen. Ich tat es nicht, allein aus Angst ihn zu verlieren.
Ich holte ihn nahe einer Unterführung ein, und stieß mich einfach vom Boden ab um ihm entgegen zu springen. Stürzte mich letztendlich mehr auf ihn.
Mein Gewicht riss ihn zu Boden, selbst ich bekam nicht viel mehr mit als das Geräusch, als er auf dem Boden aufschlug, und dem davor, als sein Kopf gegen irgendetwas gestoßen sein musste. Ich sah auf. Saß auf seinem Rücken.
Das Treppengeländer.
Ich kaute mit schlechtem Gewissen auf meiner Unterlippe. Der Dieb rang nach Luft.
„Nicht bewegen, sie sind verhaftet!“, rief ich ihm zu, zischte es ihm ins Ohr, und beinahe augenblicklich erstarrte der Körper, den ich am Boden festhielt, Nervös warf er einen Blick über seine Schulter.
„Lu…Luise!“
Es wunderte mich, dass er nicht versuchte mich weg zu stoßen. Meine Worte schienen ihn mehr erschreckt zu haben, als ich dachte. Der Gedanke erfüllte mich mit Genugtuung. Gleichstand. Ich hatte aufgeholt.
Der junge Mann unter mir zwang sich zu einem schiefen Lächeln, das dennoch sichtlich gequält wirkte.
„Sagen sie Mal…was zur Hölle sollte das?“
Demonstrativ bewegte er seine Hände. Ziemlich schwach. „Ich halte sie davon ab, abzuhauen.“, teilte ich ihm sachlich mit. Die Menschen um uns herum blieben für ein Paar Sekunden stehen um uns anzustarren, nur dem starren selbst willen, und gingen dann weiter. Getrieben von ihrer alltäglichen Eile, dem Rhythmus, dem Fluss, dem sie verfallen waren.
„Geglückt“, räumte er halb keuchend ein, versuchte schwach sich umzudrehen. „Darf ich?“
Ich ließ zu, dass er sich aufsetzte, blieb neben ihm auf dem Boden sitzen. Zitternd wanderte seine Hand zu seiner Stirn, und auch mir fiel jetzt erst auf, dass unter seinem wuscheligen Haar ein schmales Rinnsal von frischem Blut in sein Gesicht floss.
„Oh.“, machte der Dieb. Ihm schien zu schwindeln. Mir auch. Entsetzt starrte ich ihn an und ergab mich ganz meinem schlechten Gewissen, das mir stetig Beschimpfungen zuzurufen schien. Ich half ihm auf. Platzierte ihn auf einer Bank, während ich einige Entschuldigungen stammelte. Ein Taschentuch hervorkramte um ihm die blutende Stirn abzutupfen. Der Dieb sog scharf die Luft ein.
„Nicht beschweren. Sie haben’s ja eigentlich verdient.“, warf ich ihm an den Kopf. Es tat mir Leid, und hätte er mir ins Gesicht gesehen, hätte er das vielleicht auch bemerkt. Erst nach meinem Satz hielt er meine Hand fest und blickte verwirrt auf.
„Sie sagen immer noch, ich wäre ein Dieb?“
„Ich sage es nicht nur, ich weiß es.“
Der ganz sicher zu Recht beschuldigte Taschendieb lachte bitter. „Sie haben keine Beweise dafür!“
Ich lehnte mich ein Stück zurück. Verschränkte genervt die Arme.
„Erinnern sie sich an die Frau, der sie heute Morgen am Kiosk ihre Zeitung gegeben haben?“
„Sie haben mich beobachtet?!“
Grinsend schüttelte er den Kopf. „Sie sind wirklich…einzigartig.“
„Also?“
„Ja, ich erinnere mich.“
Er schien es nur ungern einzuräumen. Gespannt auf die folgende Erklärung wartend lehnte er sich ein Stück von mir weg und strich sich den Mantel wieder glatt. Ich verzog die Lippen zu einem triumphierenden Lächeln. War mir sicher, gewonnen zu haben.
„Das war meine Cousine. Und seit sie mit ihnen gesprochen hat, fehlt ihr Schmuck.“
Der Dieb deutete meinen Ausdruck richtig. Ich war mir in meiner Aussage vollkommen sicher. War überzeugt davon, dass er schuldig war, und dabei ließ ich mich von seinem Widerspruch nicht begeistern. Mein Gegenüber verfiel in längeres Schweigen und ich nutzte die Gelegenheit, sein Haar ein Stück beiseite zu schieben um das Taschentuch auf die Wunde zu drücken, die nicht aufhören wollte, zu bluten. Er mied meinen Blick, sah sich in der Gegend um. „Und jetzt?“
Ich lächelte.
„Wie haben sie es gemacht?“
Und für die Worte erntete ich nur einen unverständigen Blick. Ich wusste nicht, womit er gerechnet hatte. Dass ich ihn augenblicklich zur Polizei schleppen würde? Geld verlangen würde?
Nachdem ich bereits dafür gesorgt hatte, dass er sich den Kopf anschlug, hätte es wohl eher gepasst, wenn ich auf ihn eingeschlagen hätte. Und in den Tiefen meines Herzens und meiner kribbelnden Faust hatte ich schon beinahe Lust dazu. Dafür, dass er meine geliebte Kette genommen hatte.
Aber ich hatte sie wieder. Das war alles, was zählte. Das, und die Tatsache, dass ich wissen wollte, wer dieser Taschendieb war.
„äh…wie bitte?“
„Ich habe gefragt, wie sie es geschafft haben, meine Kette zu stehlen.“, wiederholte ich geduldig. Immer noch zuckersüß lächelnd.
Während sein nervöses Lächeln zurückkehrte und er beide Hände zuerst wieder sinken ließ, fuhr ich fort das Blut abzutupfen.
„Au! Nicht so fest, bitte.“ Er hob abwehrend die linke Hand. Machte Anstalten meine fest zu halten. Und bevor ich etwas tun könnte spürte ich das kurze Ziehen an meinem Hals, als mir die Kette von der Haut glitt und ich sie in seiner Rechten wieder fand. Sie augenblicklich wieder an mich riss.
Der Dieb grinste breit.
„So. Ich lenke sie mit der linken Hand ab“ sagte er und wedelte mit der Linken. Ich zog mich seufzend ein Stück von ihm zurück. Ungläubig, dass es schon wieder funktioniert hatte.
„Und mit der rechten nehme ich ihre Kette.“
„Das ist gegen das Gesetz“, belehrte ich ihn beleidigt. Mit Hundeblick und einem schiefen Lächeln, das noch immer unter den Kopfschmerzen zu leiden schien, hob er entschuldigend beide Arme.
Ich wartete, trommelte mit den Fingern auf den Rücken der Bank während ich ihn ganz offensichtlich anstarrte. Er lachte nervös unter meinem Blick.
„Mein Gott, sie haben einen Blick als wollten sie mich fressen. Sie haben ihre Kette doch wieder.“
Ungläubig musterte ich ihn und schnipste ihm prompt gegen den Kopf. „Seien sie nicht so unhöflich!“
„Au!“
Schmollend legte er eine Hand zurück auf die Wunde. Ich schürzte selbst beleidigt die Lippen bevor ich aufsprang und ihm mit einer Geste deutete selbst aufzustehen. Er versuchte es. Schwankte. Ich fragte mich besorgt, ob dieses Treppengeländer – um nicht zu sagen ich selbst – ihn so schwer verletzt hatte.
„Was wollen sie jetzt machen? Mich zur Polizei bringen?“
„Nein, zum Arzt.“
Während die erste Frage wohl noch beinahe scherzhaft gemeint gewesen war, starrte er mich jetzt regelrecht entsetzt an und schüttelte abwehrend den Kopf. Stolperte in Richtung der nächsten Hauswand um sich dort abzustützen. Ich konnte nicht anders als über seine unbeholfene Art zu grinsen. Er selbst schien die Sache lange nicht mit so viel Humor zu nehmen wie ich.
„Sie sind nicht fair, Luise. Ich brauche keinen Arzt. Ich gehe nicht zum Arzt.“
Mit zwei Schritten war ich bei ihm und hatte seinen Arm um meine Schulter gelegt um ihn zu stützen. Er rang sich zu einem Grinsen durch. „Okay? Kein Arzt.“
„Wie alt sind sie denn bitte? Benehmen sie sich doch nicht wie ein kleines Kind. Sie können ja kaum laufen!“
„Ach, und wessen Schuld ist das?“
„Deswegen bringe ich sie ja zum Arzt. Zur Polizei können wir später.“
Ein erschrockener Blick. Die Hundeaugen sahen mich flehend an.
„Nur ein Scherz.“
Immer mehr begann ich mich zu fragen, was in seiner Vergangenheit geschehen sein mochte. Wieso er stahl. Wieso er diesen Mantel trug.
Wie sein Name war. Ob er seine Haare immer so trug. So durcheinander. Ob er jeden Tag beim Kiosk war. Ob er wirklich so ein Tollpatsch war, wie es den Anschein hatte. Die Fragen häuften sich und ich wagte es nicht, auch nur eine davon auszusprechen. Langsam, sagte ich mir. Ich hatte Zeit. Viel Zeit. Er konnte ja nicht einmal richtig laufen.
„Ich habe keine Krankenversicherung.“, sagte er arglos.
Sein Blick war auf die Leute gerichtet, die uns begegneten, und die Blicke der Leute wiederum lagen skeptisch auf uns. Es musste seltsam aussehen, wie wir gemeinsam die Straße hinabtorkelten, ich ihn stützte während er sich das Taschentuch auf die Wunde am Kopf presste. Das Taschentuch hatte sich bedrohlich rot gefärbt. Eine regelrechte Signalfarbe für mein schlechtes Gewissen. Ich schluckte und versuchte wieder zu lächeln.
„Na und?“
„Ich habe auch kein Geld dabei.“
Das machte mich dann doch ein wenig stutzig. „Haben sie sich denn keines gestohlen?“
Vorwurfsvoll sah er mich aus den braunen Augen an. Ich seufzte. „Ich meine, haben sie denn keine Arbeit?“
Schweigen. Dann ein langsames „Doch.“
Ich sah darin meine erste Chance zu fragen. Legte den Kopf ein wenig schief. „Wo arbeiten sie?“
Wieder schweigen. Das ganze ging eine ganze Weile so, bis wir vor der Praxis standen die mit einem glänzend weißen Schild mit der silbernen Aufschrift „Doktor Jean Bouvier“ beschriftet war. Das ganze Gebäude machte einen überaus peniblen und sauberen Eindruck. Vielleicht schleppte ich ihn gerade deswegen dort hin.
Als wir vor den gläsernen Türen der Praxis standen, begann der Dieb sich aus meinem Griff zu entwinden.
„Das ist wirklich unnötig!“
Verbissen zog ich ihn am Kragen beinahe gewaltsam zurück. Resignierend ließ er sich mitziehen. Es wurde zu einer rechten Herausforderung ihn in den Aufzug zu ziehen und ihn anschließend im fünften Stock wieder heraus zu bekommen. Er schien sich an den silbernen Stangen im Fahrstuhl regelrecht fest zu klammern.
„Verdammt, was haben sie nur? Es ist doch nur ein Arztbesuch!“
„Ich mag Ärzte nicht, die wissen immer so viel über einen.“, protestierte er. Ich löste seine Hand vom Aufzugsgeländer indem ich ihm eine grobe Kopfnuss verpasste und er mit einem Aufheulen losließ und sich mit in Richtung Tür ziehen ließ, die sich direkt vor meiner Nase wieder schloss. Ungläubig starrte ich eine Weile darauf. Der Aufzug bewegte sich wieder nach unten, und als wir das nächste Mal auf dem Weg nach oben waren, hatten wir eine besorgte Mutter mit einem schreienden Kind neben uns im Aufzug und kamen letztendlich nicht umhin beide laut aufzulachen.
Die Frau starrte uns an.
Uns beide schien es nicht wirklich zu stören.
Ich nannte ihn einen Trottel und er bezeichnete mich als eine wahre Hexe.
Als wir im fünften Stock endlich ausstiegen funktionierte es ohne jeden Protest.
Ich legte der wasserstoffblonden Sekretärin am Tresen die Untersuchungsgebühren für den Taschendieb hin, schob ihn schließlich zu dem genauso freundlich wie berechnend wirkenden Arzt im weißen Kittel hin und ließ ihn in dessen Obhut allein. Ich selbst verweilte im Wartezimmer. Und konnte selbst kaum glauben, dass ich den Dieb meiner Kette ausgerechnet zum Arzt gebracht hatte, und mir der Gedanke, ihn mit auf das Polizeipräsidium zu nehmen gar nicht gekommen war.
Ich durchblätterte derweil eine Modezeitschrift mit jenen abgemagerten Models, die Jaqueline so entsetzt hatten. Keines der Bilder konnte wirklich mein Interesse wecken. Als der Taschendieb letztendlich wieder hereingekommen war musste er an meiner Schulter rütteln um mich zu wecken, mit einem schelmischen Lächeln das mich augenblicklich daran erinnerte meinen Hals zu kontrollieren. Aber meine Angst war unbegründet – die Kette hing noch an ihrem Platz.
„Keine Sorge, Luise. Noch einmal begehe ich diesen Fehler sicher nicht.“ Er grinste. Die Wunde an seiner Stirn war mittlerweile von einem Pflaster und einem Verband darüber abgedeckt, und ich fand, dass er schon nicht mehr so blass wirkte wie zuvor. Mit einem erleichterten Lächeln setzte ich mich auf.
„Lui reicht.“
Seinen eigenen Namen nannte er trotzdem nicht, und ich beschloss, ihn noch nicht danach zu fragen. Sein Lächeln dafür war mir einen Moment lang Lohn genug. Meinen Namen durfte er behalten.
Wir verließen die Praxis mit leichterem Gemüt, als wir sie betreten hatten. Der Taschendieb wurde auch weiterhin von mir gestützt. Ganz selbstverständlich. Und für den Moment hatte ich nicht wirklich etwas dagegen einzuwenden.
„Also? Wo arbeiten sie?“
Ich fragte unvermittelt. Dieselbe Reaktion wie zuvor. Er schwieg eine Weile, bevor er sich zu entschließen schien etwas zu antworten. Zögernd, und so nichts sagend, dass ich ihn kurzerhand kurz losließ und wieder auffing, als er zu schwanken begann. Der Arzt hatte ihm geraten sich für einige Tage nicht zu sehr zu bewegen.
Wenn ich ihn mir so ansah fand ich es beinahe schon lustig.
„In…Paris.“
„Aha“, machte ich, und drängte ihn mit einem ungeduldigen Blick weiter zu sprechen.
„In…einem Haus. Einem großen Haus.“
Ich zuckte einen Moment lang die Schultern. Ließ ihn los und behielt lediglich seine Hand in meiner. Erschrocken klammerte er sich hilflos an mir fest, bevor er ein Unterführungsgeländer erreichte und sich an diesem abstützte.
„Sie spielen mit unfairen Mitteln, Lui!“
Ich grinste. „Erzählen sie mir etwas Neues. Also?“
Ein finsterer Blick, der nicht wirklich wütend schien. Meine Hand hielt er trotzdem fest, versuchte sich vorsichtig durch die Menge weiter zu bewegen. „Ich arbeite mit Büchern.“
Das war immer noch nicht sehr genau. Ich versuchte mir alle großen Häuser in den Sinn zu rufen, in denen man mit Büchern arbeiten konnte. „In einer Bibliothek?“
Das war das erste. Der Dieb verzog das Gesicht.
„Ich gehe jetzt besser nach Hause.“
Darauf nickte ich nur. Ich hätte Lust gehabt, ihn mit Fragen zu löchern, aber ich konnte ihn wohl kaum mit einer Verletzung hier auf der Straße festhalten. Jaqueline würde enttäuscht sein. Ich war es auch.
„Sie sagten, sie haben kein Geld dabei. Wie weit ist es noch bis zu ihrer Wohnung?“
Keine Antwort. Mürrisch klammerte er sich haltsuchend an meiner Schulter fest, die unter seinem Gewicht ein wenig zitterte.
Ich gab mir größte Mühe ruhig stehen zu bleiben.
„Luftlinie?“
„Mhm.“
„Ein paar Kilometer.“
Ich blieb stehen. Hilflos versuchte er das Gleichgewicht zu halten.
„Ich kann sie nicht alleine so weit gehen lassen. Wenn sie wollen, rufe ich ihnen ein Taxi.“
Seine Hundeaugen musterten mich misstrauisch. Ich konnte nicht anders als zu grinsen.
„Das…würden sie?“
„Wenn sie „Bitte“ sagen.“ Ich strahlte ihn unschuldig an. Mit gesenkten Mundwinkeln stolperte er ohne meine Hilfe weiter, und ich lief einfach mit hinter dem Rücken verschränkten Armen hinter ihm her, darauf wartend, dass er nachgab. Allzu lange musste ich nicht warten. Nach fünf Minuten des hilflosen Stolperns gab er auf.
Er grinste mir zum Abschied zu und ich konnten nicht anders, als zurück zu lächeln als er sich in dem gelben Wagen schneller werdend entfernte.
Meine Kette war immer noch da. Als ich am Abend den Hörer des Telefons abnahm und Jaquelines helle Stimme nach allen Einzelheiten fragte, erzählte ich ihr alles geduldig.
Und hatte dabei überraschend gute Laune.

Es roch staubig in der Bibliothek. Alt. Richtig beschreiben konnte man es nicht. Es war der Geruch von alten Seiten und Büchern, hunderte Male aufgeschlagen, hunderte Male gelesen, von einer Hand in die nächste gegeben. Es roch nach den Geschichten, die darin niedergeschrieben standen, nach Worten, die für jeden Menschen eine andere Bedeutung hatten, nach Buchstaben und Zahlen, Sätzen, Reimen, Versen…
Mit einem leisen Seufzen schlug ich das Buch zu, das ich eben noch durchblättert hatte.
„Asiatische Küche“.
Nein, ich war nicht wirklich hergekommen um mir ein Kochbuch anzusehen. Ich war auch nicht hier um ein anderes Buch auszuleihen, zu lesen, oder nur herumzusitzen. Aber was ich hier suchte war nicht mehr und nicht weniger als ein guter Grund hier zu sein. Denn den Grund den ich hatte wollte ich mir selbst nicht recht eingestehen.
Mein Grund war lächerlich.
Tollpatschig.
Und obendrein ein Dieb.
Nachdem der Arzt ihm gestern noch Ruhe verschrieben hatte, machte es mich beinahe schon wütend zu sehen, wie er eilig zwischen den Regalen der gewaltigen Bücherei hin und her eilte und die verschiedenen Bücher einsortiere.
Dabei eine seltsame zufriedene Ruhe ausstrahlte.
Seine Arbeit wunderte mich doch durchaus. Den lieben langen Tag rannte er zwischen den Regalen hin und her, schien dabei beinahe schon entspannt, und sah zu meiner eigentlichen Verwunderung durch und durch normal aus. Unter dem Mantel den er sonst immer trug war er nicht mehr als ein völlig gewöhnlicher Bürger, der schlichtweg zu unbeholfen schien, als dass er ein krimineller hätte sein können. Das wuschelige Haar und der Pullover den er trug machten ihn zu einem Menschen, der in Paris nie auffallen, und nie verdächtigt werden würde.
Verdächtig waren lediglich die Bedingungen, unter denen er arbeitete, und ich nutzte meine Zeit schon bald damit, in der Nähe seines Arbeitgebers zu bleiben um zuhören zu können.
Das Haar hatte ich mir zu einem Pferdeschwanz gebunden, trug eine helle Sonnenbrille und eine schlichte Jeansjacke, und trotz aller Unauffälligkeit verschwand ich mit einem leisen Grinsen schnell hinter den Bücherreihen, wenn ich ihn nahen sah. Und er näherte sich durchaus oft.
Für die Angestellten der Bibliothek schien er nicht mehr zu sein als ein Laufbursche. Sein Name viel etliche Male an diesem einen Arbeitstag, an dem ich ihn beobachtete. „Adi“ riefen sie ihn, schallend und laut, und wenn „Adi“ nicht augenblicklich heran geeilt kam – und er beeilte sich jedes Mal, als ginge es um sein Leben – wurde der Name in doppelter Lautstärke nur noch wiederholt.
Das Bild des umher hetzenden Taschendiebes in der Bibliothek rief mir ein Grinsen auf die Lippen, das nicht schnell genug verblasste als er mich letztendlich bemerkte.
Ich saß in der Abteilung für Philosophie und hatte mich über ein wahllos gezogenes Buch gebeugt, dass bei näherem Hinsehen eine Biografie Sokrates’ war. Wohlgemerkt ein Thema, mit dem ich rein gar nichts anzufangen wusste.
„Adi“ schien auch dass recht schnell zu bemerken.
Um die Mittagszeit herum – ich konnte selbst kaum fassen dass ich den ganzen Vormittag wegen ihm in der Bücherei gesessen hatte – kam er langsam auf mich zugesteuert und schien zu hoffen, ich würde ihn nicht zu schnell wahrnehmen.
Auf den Armen trug er einen nicht leicht aussehenden Stapel Bücher zu einem Regal in meinem Rücken, und auch ich konzentrierte mich stillschweigend darauf ihn zu ignorieren.
Die Minuten verstrichen. Sinnlos und schweigend. Ich meinte, das Ticken der Uhr deutlicher und lauter zu hören als zuvor. Es raubte einem jeden Nerv, das Ticken. Und dann spürte ich seinen Atem plötzlich direkt neben mir, als er sich über meine Schulter beugte und die Lippen zu einem schiefen Lächeln verzog, beim Anblick des Buches.
„Sokrates. Soso. Ich hatte nicht erwartet, dass sie sich für so etwas interessieren würden.“
Ich spürte wie mein Herz zu Rasen begann und wünschte ihn in Gedanken zum Teufel.
„Tu ich aber.“
Ich schrie es ihm beinahe entgegen. Verwundert zog er die Augenbrauen zusammen und zog sich von meiner Seite zurück. Das Seitenrascheln um mich herum verstummte für einen Moment. Mir schoss die Röte ins Gesicht als mir bewusst wurde, wie laut ich da gerufen hatte. Die Ruhe der Bibliothek war plötzlich erdrückend.
„Ist ja gut.“
Der Taschendieb zuckte mit einem breiten Grinsen nur die Schultern und wandte sich ab, um die Bücher einzusortieren.
Ich starrte mehrere Minuten lang konzentriert die Seiten an und versuchte sogar, ein wenig darin zu lesen. Nach fünf Minuten hatte ich die Seite geschafft.
Und vergessen, worum es ging.
Ich begann, sie noch einmal zu lesen. Und noch einmal. Wieder und wieder brannten sich die Worte in mein Gedächtnis und schienen dort von anderen Gedanken sofort wieder gelöscht zu werden.
Ich verfluchte meinen Kopf schweigend und warf dem ganz normal arbeitenden Taschendieb einen misstrauischen Blick zu – den er letztendlich auch bemerkte.
„Was?“
„Sie sollten mit der Verletzung nicht hier sein! Der Arzt hat gesagt…“
„Es tut nicht mehr weh, es geht mir besser. Ich komme klar, danke.“, unterbrach er mich mit einem Lächeln, dass im Grunde keinen Zweifel an seiner Aussage gelassen hätte, wäre ich nicht aufgestanden und hätte prompt mit der flachen Hand gegen die Wunde geklopft, die da an seiner Stirn prangte.
„Au!“
Ich zog die Hand zurück und starrte ihn abwartend an. Einige der Leute, die ruhig mit Büchern dagesessen waren, musterten mich zusehends skeptisch. Vielleicht, dachte ich mit einem Mal, hatten sie mich schon in der Metrostation gesehen.
Sie mussten mich für wahnsinnig halten. Nicht normal. Und alles nur wegen einem ganz unschuldigen Menschen, wie er es in den Augen der anderen war.
Ich begegnete seinem Hundeblick und schürzte beleidigt die Lippen.
„N…nehmen sie sich einfach frei! Sie wissen doch, das ich recht habe.“
Ein beleidigtes Brummen war die Antwort. „Das geht nicht, es geht mir gut. Und außerdem geht sie das gar nichts an.“
Die Worte versetzten mir einen ungewohnten Stich. Mein Blick musste unglaublich verletzt gewirkt haben, denn er versuchte es mit einem entschuldigenden Lächeln wieder gerade zu biegen, deutete beiläufig auf den Stapel Bücher, den er noch zu sortieren hatte. Aber ich war beleidigt.
So.
Und so starrte ich ihn auch mehrere Sekunden an.
Unbemerkt.
Dann schnappte ich mir das Philosophiebuch, verabschiedete mich mit einem knappen Satz und rauschte aus der Bibliothek.

Den Abend verbrachte ich beim Boxen.
In der Halle roch es nach Schweiß und Staub, die Luft hier war unangenehm stickig und warm, aber ich war dennoch gerne hier.
Wenn ich wütend war.
Oder beleidigt.
Ich schlug eine gute halbe Stunde blindlings auf einen der Sandsäcke ein, schrie mir die Seele aus dem Leib und begegnete beinahe mit Genugtuung den Blicken meiner Kameraden.
Ich kannte einige der Gesichter hier. Viele waren zukünftige Kollegen von mir, andere hatte mir Jaqueline vorgestellt, und wieder andere waren mir einfach schon häufig hier in der Boxhalle begegnet.
Mit einem erneuten Schlag, für den ich weit ausgeholt hatte, schlug ich den Sack ein ganzes Stück nach hinten und wäre damit auch zufrieden gewesen, hätten nicht die Hände eines Kameraden den Schlag abgefangen und den Boxsack in der Luft festgehalten.
Das Gesicht unter den blonden Haaren des anderen grinste mich an. Mir war nicht recht nach Lächeln zu Mute, vor allem aber wusste ich selbst nicht warum.
Fordernd musterte ich mein Gegenüber. Wenn ich mich nicht täuschte war er selbst Polizist. Jemand, dessen Blick ich schon häufig begegnet war.
Das Grinsen wich nicht aus seinen Zügen.
„Mensch, Lui, was ist heute los mit dir? Wir haben alle echt Angst vor deinem Blick.“
Ich starrte in den Spiegel als könne dieser mir verraten, was er meinte stellte aber nichts Ungewöhnliches fest.
Ich hatte mir die Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, die wenigen Locken die sich gelöst waren kräuselten sich feucht vor Schweiß und klebten mir an der Stirn. Noch immer konnte man das unzufriedene zucken um meine Mundwinkel bemerken, wenn man genau hinsah, aber ich bezweifelte, dass sich daran irgendjemand stören konnte. Der Blonde grinste. Unsicher.
Wie war sein Name gewesen? Michael? Marek? Pierre oder Jean?
Ich starrte angestrengt in sein Gesicht, so sehr, dass es vermutlich schon ziemlich aufdringlich wirken musste, und suchte nach dem Namen während er weiter sprach. Abwehrend die Hände hob.
„Lui, du schaust echt mörderisch drein.“, teilte er mir mit, und ich dachte nur „Aha“ und schlug gegen den Sack den er ja mittlerweile loslassen musste.
Er verfehlte nur knapp das Gesicht des armen Polizisten, dessen Namen ich vergessen hatte, und von dem ich glaubte ihn schon ewig zu kennen.
Der namenlose legte beschwichtigend eine Hand auf meine, und lächelte beinahe so unschuldig wie der Taschendieb, wegen dem ich hier war, und dessen Namen ich selbst immer noch nicht wusste.
Adi.
Das war ja wohl kaum sein richtiger Name. Während den nächsten Schlägen, die dem Blonden wohl endlich versicherten, dass er sich entfernen sollte – was er dann auch mit einem gequälten Lächeln und geröteten Handflächen tat – ging ich das Alphabet durch und die Namen, die mir zu diesen verdammten drei Buchstaben einfielen.
Und dazu dachte ich immerzu an sein Gesicht, das vor dem rotbraunen Sandsack erschien.
Richtig zuschlagen konnte ich nicht mehr.

Ich schlief nicht sonderlich gut in dieser Nacht. Mein Vater hatte mir eine Nachricht auf dem Handy hinterlassen, die mir dennoch nur flüchtig zu denken gegeben hatte.
Stecken in einer Ermittlung gegen Drogenboss. Vergiss nicht, Jaqueline anzurufen. Irgendwas mit ihrem Freund. Ich liebe dich, Papa.
Die Worte hatten mich dazu verleitet, die Augen zu verdrehen. Obwohl ich wusste, wie pubertär das für eine erwachsene Frau anmutete, löschte ich trotzig die SMS und dachte daran, dass ich kein kleines Kind mehr war, dass es zu bemuttern galt.
Mein Kopf war mit anderen Dingen beschäftigt, auch noch als ich Jaquelines Nummer wählte und mir die nächsten zwanzig Minuten anhörte, wie schlecht sie ein neuer Flirt behandelt hätte, der sie am Ende einfach hatte stehen lassen. Einfach so.
Ich hörte ihr nur halb zu. Ein schlechtes Gewissen hatte ich nicht dafür. Während sie redete – und sie redete lange, atemlos, und ohne wirkliche Unterbrechung von diesem Mann, der, wie ich erfuhr, als Kassierer in einem billigen Kino arbeitete und ganz wunderbar lockige Haare hatte – fischte ich mir einige Essiggurken aus einem Glas und verspeiste sie einzeln als Abendessen. Mehrmals verzog ich das Gesicht wenn ich in das Essiggetränkte Gemüse biss, und verbrachte meine Zeit halb damit, zuzuhören, zu essen, und mich mit der Frage abzulenken ob Gurken wirklich Gemüse oder Obst waren.
Die Antwort – wer hätte es gedacht – blieb beim Gemüse und interessierte mich dann doch nicht.
Als Jaqueline dann erneut die Haare beschrieb, und die schönen braunen Augen, und ihren Schwarm ausgerechnet mit dem verdammten Taschendieb verglich, erreichte meine Laune einen erneuten Tiefpunkt.
Jaqueline schmatzte ihre Beschwerden selbst nur noch ins Telefon.
Ich kannte sie und wusste, dass sie begonnen hatte eine Schüssel Naturjoghurt in sich hinein zu schaufeln, wie sie es immer tat, wenn sie beleidigt war.
Ich musste Lächeln bei dem Gedanken, und war plötzlich unglaublich froh, sie zu haben. Und dann fragte ich sie nach Namen. Alle Namen, die sie mit „Adi“ verband, und Jaqueline, eifrig wie sie war, diktierte mir bald schon aus dem Internet heraus sämtliche Namen mit A, die ihr unterkamen, und die ich bald schon allesamt wieder vergessen hatte.
Als ich eine halbe Stunde später im Bett lag und nicht einschlafen konnte, hatte ich schon wieder dieses Gesicht vor Augen und grübelte weiter wie er hieß, und wie er es wagen konnte mit dieser Verletzung in dieser Bibliothek zu arbeiten, in der er herumgescheucht wurde wie ein Hund.
Um mich abzulenken las ich dann von Sokrates, und starrte ununterbrochen auf ein Poster von Michael Jackson, dass ich mir einzig zu diesem Zweck auf die gegenüberliegende Wand gehängt hatte.
Ich schlief also nicht mit dem Gesicht von Adi ein, sondern dem des King of Pops, und war damit um einiges glücklicher. Es änderte nichts daran dass ich von ihm träumte, mit einem weißen Handschuh und schwarzem Anzug und auf einer Bühne, die voller gestohlener Schmuckstücke war.
Meine geliebte Kette, die plötzlich herzförmig war, trug er in seiner schneeweißen Hand.





















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PostSubject: Re: Biscuit   Biscuit EmptyTue Aug 31, 2010 12:50 pm

- .- Deviner -.-

Der nächste Morgen begann so, wie jeder Morgen auch, noch bevor ich ihn kennen gelernt hatte.
Ich stolperte in der Metro auf und ab, stieß versehentlich gegen Passanten und achtete nur auf meine Kette.
Ich begegnete verächtlichen und freundlichen Blicken gleichermaßen, denen, die ganz gleichgültig waren, und denen, die nach etwas suchten dass sie anstarren konnten. Und sie fanden es an mir, ohne das ich wusste, woran es lag.
Ich starrte mehrmals mit müden Augen an mir herunter während ich durch die zentrale Metrostation schlenderte. Sportjacke, darunter ein weißes T-Shirt und Jeans. Meine Haare waren noch etwas feucht und wirr von der morgendlichen Dusche, und letztendlich schrieb ich die ungewünschten Blicke gähnend auf meine ungeordnete Frisur.
Wie man es auch sah, richtig wach war ich noch nicht. Ich fühlte mich, als hätte ich in der Nacht kein Auge zugetan und meinte mich immer noch in einem seltsamen Fiebertraum, in dem ich fortwährend zu Michael Jackson, der eigentlich der Taschendieb war, auf einer goldenen Bühne applaudierte.
Ich schüttelte müde den Kopf. Dazu kamen die Kopfschmerzen. An dem billigen Kiosk im Untergrund holte ich mir einen Kaffee, von dem ich mir erhoffte endlich wach zu werden, und stieß auf dem Weg zu einem der Tische dieses Mal selbst gegen eine Person, sah einen Moment lang nur dunklen Stoff und brauchte auch einen Moment um einen Satz zurück zu machen.
Der Mann hatte verdutzt meinen Arm ergriffen um zu verhindern, dass ich den Kaffee auf seinen geliebten Mantel verschüttete, oder wirklich noch zu Boden stürzte. Mit unglücklich verzogenen Lippen starrte ich meinen Taschendieb an und griff zu meiner Kette, die zu meiner Erleichterung noch da hing, wo sie hängen sollte. Sicher um meinen Hals.
„Adi“ hob beschwichtigend die Hände. „Mach ich nicht noch mal. Äh….Morgen, Lui.“
Ich brummte die höfliche Erwiderung. Nicht mehr als eine alltägliche Floskel die ich nicht unbedingt angebracht fand. Ich hatte das Gefühl etwas anderes sagen zu müssen.
Musterte seine Stirn.
Der Verband befand sich immer noch unter dem wuscheligen Haar, halb bedeckt, und sorgte dafür dass der junge Mann noch tollpatschiger wirkte, als er es ohnehin schon tat.
„Sie wollen schon wieder so arbeiten gehen“, stellte ich fest. Er schaute mich verdutzt an. Wirklich schuldbewusst, fand ich, sah er nicht aus.
Noch bevor er den Mund aufmachen konnte, hatte ich ihn schon unterbrochen. Ohne zu wissen warum, brannte in meinem Magen heiß die Wut, dass er sich so hier draußen blicken ließ. Verletzt.
Ich war zumindest überzeugt davon, dass er sich frei nehmen sollte. Zumindest einen Tag, das sollte doch machbar sein!
„lassen sie mich raten, es geht ihnen schon viel besser. Und es tut nicht mehr weh.“, äffte ich ihn nach. Mit einem „Genau“ stimmte er schlichtweg zu.
Ich verschüttete Kaffe über seine Stirn.
Versehentlich, versteht sich.
„Adi“ zuckte zusammen. Ich mochte den Namen an ihm nicht. Es passte aus meiner Sicht nicht zu ihm, und umso verbissener suchte ich nach seinem Namen. „Was sollte denn…“, setzte er an, griff unsicher nach einer Serviette, die ich ihm prompt aus der Hand riss und mit der ich ihm darauf hin unsanft die Stirn abtupfte.
„So was…das tut mir wirklich Leid. Aber da es nicht mehr weh tut, ist das halb so wild.“
„Au…he…nicht so grob…Lui!“
Nachdem ich ihm beleidigt regelrecht auf den Kopf eingehämmert hatte – das ist natürlich eine viel zu übertriebene Beschreibung, will ich betonen – hielt er mein Handgelenk erneut umklammert und schob mich mit sanfter Gewalt ein Stück weg von sich. Ich musste schmollend feststellen, dass es ihm trotz meinem Widerstand mühelos gelang.
„Ich hab’s ja verstanden“, betonte er, die Augenbrauen missmutig zusammen gezogen.
Dann begann er auch noch, mich anzustarren. Ich blieb schweigend stehen, musterte seine Hand, die meinen Arm festhielt und fragte mich, was es zu starren gab.
Hatte ich doch etwas vergessen?
Vielleicht die Sportjacke, oder das T-Shirt? Vielleicht hatte ich vergessen eine Hose anzuziehen?
Ich verdrehte die Augen. Starrte an mir herab.
Nein, ich trug eine Hose, wie ich es ursprünglich auch erwartet hatte. Schwach zerrte ich an meiner Hand und der Taschendieb ließ mich mit einem Räuspern los.
„Ist irgendwas?“
„Ah…nein…sie haben nur ihre Jacke falsch herum…angezogen.“
Ich sah erneut an mir herunter. Errötete, als ich feststellte dass das stimmte und schlüpfte kurzerhand und überaus schlecht gelaunt aus der Jacke um sie umzudrehen.
Der Dieb verkniff sich das Grinsen.
„Sieht…süß aus.“
„Haha.“
Jetzt grinste er doch breit. „Oh, doch wirklich.“
Eine Weile standen wir schweigend da und betrachteten den Boden. Zumindest tat ich das – ich beobachtete mit gespieltem Interesse eine Spinne die dort über den Boden huschte – und erwartete doch irgendwie, dass er es auch tat.
„Ich wollte sie noch fragen, wie sie das Buch nun fanden, dass sie ausgeliehen haben.“
Sekundenlang dachte ich nach.
Buch.
Buch.
Philosophiebuch! Sokrates!
„Ah…ja…ähm….gut. Es war sehr…interessant.“
Wohin hatte ich das Buch verlegt, nachdem ich beschlossen hatte schlafen zu gehen? Auf den Sofatisch? Ich hoffte doch nicht. Die Hunde hätten es zerfetzt, und das hätte mir doch ein wenig Leid getan. Nein, auf dem Sofatisch war es nicht gewesen.
In die Küche? Das Bad?
In der Schrankschublade, in der auch die alten Zeitschriften lagen, aus denen ich das Michael-Jackson-Poster hatte?
Es konnte genauso gut noch bei meinen Sportkleidern in der Tasche liegen geblieben sein.
War es unmoralisch ein Philosophiebuch zu verlegen? Und wenn man mich fragte, wie ich ein Buch über Philosophie gefunden hatte, sollte ich dann eine schlaue Bemerkung zurückgeben und gebildet wirken?
„Das freut mich zu hören. Sokrates hatte wirklich großartige Ansichten.“
„Ah…sie kennen sich damit aus?“
„Man lernt viel, wenn man in einer Bibliothek arbeitet.“
Ich kniff die Augen zusammen.
Vielleicht wäre die kluge Bemerkung ja doch besser gewesen. Ich fand, er für seinen Teil hatte das intelligent gelöst.
„Hätte ich gar nicht gedacht.“ Dann brüllte ich: „ADI!“
Und Adi zuckte erschrocken zusammen. Passanten drehten die neugierigen Köpfe zu mir. Wie ärgerlich. Schon wieder. Ich begann, mich als ein Magnet für fremde Blicke zu fühlen. Vermutlich aus Eigenverschuldung.
„Wo haben sie das denn aufgeschnappt?“
„Na wo wohl.“
„Oh.“
Adi fuhr sich mit einer Hand durch das wuschelige Haar. Das noch immer von Kaffee ein wenig verklebt war. Ich biss mir auf die Unterlippe. Verkniff mir das Lächeln.
„Und?“
Er schien nicht zu verstehen. „Und was?“
„Heißen sie so?“
„Das ist nur ein Spitzname.“
Ich grinste und sagte dann: „Und?“
„Was, schon wieder?“
„Wie heißen sie dann richtig?“
Ich fand, das ich langsam das Recht hatte, das zu erfahren. Adi öffnete die Lippen um zu antworten und ich ertappte mich dabei, die Luft angehalten zu haben.
Also?
Also?!
War es ein schöner Name? Oder einer, den man nicht gerne nannte? Ein alter, oder neuer, kurzer, langer Name? Gab es denn überhaupt einen Namen der zu diesem Taschendieb wirklich passte?
Ich wartete. Immer noch.
Adi meinte nur: „Raten sie.“
Mein Blick musste ziemlich entsetzt gewirkt haben, denn es klang fast schon ein wenig verschwörerisch als er hinzufügte: „Wenn sie mit drei Versuchen richtig raten, dürfen sie sich etwas wünschen.“
Er lachte.
Ich nicht.
Vor Allem aber schien er sich ziemlich sicher zu sein, dass ich seinen Namen nicht würde erraten können.
Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte, aber als mir in den Sinn kam, dass er das ja irgendwie versprochen hatte, kehrte mit einem Grinsen die Motivation zurück.
Ich dachte nach.
Der erste Name der mir in den Sinn kam war Andreas, aber dann dachte ich, dass man das mit „Andi“ abkürzen würde, und verwarf es wieder.
„Adolf“ riet ich dann scherzhaft. Adi verzog das Gesicht. Ich tat es ihm gleich. Der Name passte nun wirklich überhaupt nicht.
„Falsch“, erwiderte er ganz unnötigerweise.
Während ich mich mit dem verbliebenen Rest meines Kaffees an einen Tisch setzte – mittlerweile hell wach – holte er sich selbst eine Tasse und setzte sich mit neugierigem Erwarten zu mir.
Ich trommelte abwesend mit den Fingern auf dem Metalltisch. In Gedanken ging ich das Alphabet durch.
Ad…Adn…Adm…Ade…Adri...
„Adrian.“, schlug ich vor. Adi starrte mich eine Weile an, dann sagte er langsam und unsicher „Nein…“
Ich blinzelte. „Doch?“
Immerhin war es nicht der französische Name gewesen. Ja, was redete ich denn eigentlich?
„Nein, nicht ganz.“
„Adrien.“, sagte ich. Ganz überzeugt.
Er schwieg nur, und ich begann zu Lächeln und flüsterte den Namen ein weiteres Mal leise. Und wieder. „Ja, Adrien!“
Das war der Name, der passte. Namen, dachte ich mir stolz, passten irgendwie doch immer zu den dazugehörigen Gesichtern, sonst waren sie irgendwie nicht richtig. Und dieser Name passte zu dem Taschendieb mit den wuscheligen Haaren und dem Hundeblick und dem unschuldigen, schiefen Lächeln.
Adrien, der ertappt war und auch so aussah, zog ein beleidigtes Gesicht.
„Wie haben sie das gemacht?“
Ich war mir nicht ganz sicher, ob er das ernst meinte. „Tja.“
Dann schwieg er wieder.
Betroffen.
Und trank seinen Kaffee. Ganz unschuldig.
Beinahe tat es mir Leid die Ruhe wieder zu unterbrechen. Nur beinahe.
„Das heißt ich hab einen Wunsch frei“, erinnerte ich ihn mit einem breiten Grinsen. Er schien nur resignierend zu Nicken. Aufopferungsvoll.
„Ich schätze ja. Und was wünschen sie sich?“
„Die Weltherrschaft.“, scherzte ich. Er grinste nur halbherzig.
Schweigend nahm ich einen Schluck von meinem Kaffee. Die Stille zog sich in die Länge, aus den ursprünglichen Sekunden wurden schnell Minuten.
Mir kam in den Sinn, was Jaqueline in einer solchen Situation gesagt hätte. Ich verzog angewidert das Gesicht. Adrien musterte mich mit einer scheinbaren Mischung aus Ungeduld, Neugier und Missmut und ich beschloss, es kurz zu machen.
Anders als Jaqueline würde ich nicht ins Schwärmen für einen Taschendieb verfallen. Und sie wäre es ganz bestimmt. Ja, ganz bestimmt! Ich war froh, dass sie nicht hier war.
Bei Adrien.
Und diese Frage gestellt bekommen hatte.
Ich stand auf, winkte ihn hinter mir her. Meinen Kaffee ließ ich einfach stehen, etwas irritiert folgte er meinem Beispiel. In der Metro herrschte das gewohnte rege Treiben. Farben mischten sich wild durcheinander und erstellten ein Bild der Unruhe und Hektik.
Ich sah mich um. Die Gänge der Metro waren kalt und sauber, von Neonröhren in künstlichem Licht beleuchtet, und gaben einem nicht gerade ein heimisches Gefühl. Es stand im krassen Gegensatz zu denen, die durch diese Gänge gingen, bunt wie hunderte verschiedene Eindrücke.
„Heißt das, ich kann sie jetzt zur Polizei bringen?“, schlug ich scherzhaft vor und beobachtete belustigt wie er stehen blieb und mich einen Moment lang entsetzt musterte. „Ich…hab noch was vor.“
Er hätte mit rauschendem Mantel kehrt gemacht, hätte ich ihn nicht am Arm gepackt und zu mir zurückgezogen.
Wusste Adrien, wer ich war? Wer mein Vater war? Aber es spielte keine Rolle. Aus irgendeinem Grund, den ich mir selbst nicht recht erklären konnte, wollte ich ihn nicht der Polizei übergeben.
Ich beruhigte mein Gewissen damit, das er nicht mehr war, als ein harmloser Kleinkrimineller, an dem man ohnehin nicht viel Interesse hätte. Nur ein Taschendieb.
Ein kleiner Fisch im Meer von Paris.
Jetzt jedenfalls versuchte ich so vertrauenswürdig wie nur möglich zu lächeln. Ich ließ seinen Arm erst los, als er nicht mehr den Eindruck machte, wegrennen zu wollen.
„Dass sie ein Dieb sind, ist eine Tatsache.“
Er breitete unschuldig die Arme aus.
„Ich nenne mich selbst lieber „Zauberer“.“
Ein Kontrollbeamter der Metro schlenderte an uns vorbei und warf meinem Taschendieb (MEINEM Taschendieb, wie ich ihn taufte weil ich beschlossen hatte ihn nicht so leicht ziehen zu lassen, und er das wohl auch registriert hatte) einem langen, prüfenden Blick zu, dem Adrien geschickt auswich. Ich fragte mich, ob er häufig hier auffiel. Mit seinem Mantel, den er jeden Tag trug, und den Wuschelhaaren. Dem Hundeblick, und der tollpatschigen Art, wie er sich bewegte.
„Beschönige es nicht.“, sagte ich, als ich mir sicher war dass der Beamte uns nicht mehr hörte. „Sie sind ein lausiger Dieb, und nicht mehr.“
Mit einer herrischen Geste gebot er mir, leiser zu sprechen. Ich dachte nicht einmal daran, schuldbewusst dreinzuschauen.
Immerhin war er selbst schuld.
Ich wandte mich erneut ab, um weiter zu gehen, dieses Mal folgte er zögernd.
„Lui?“
„Hm?“
„Sie wollen mich doch nicht wirklich zur Polizei bringen?“
Ich schmunzelte. Traute er mir?
Er konnte unmöglich wissen, wer mein Vater war. Dass ich dem Gesetz geschworen hatte, treu zu bleiben. Und bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich auch nie anders gehandelt. Nie gegen das Gesetz. Immer gewissenhaft, und auf Seiten der Polizei. Bis jetzt. Wegen einem kleinen, unwichtigen Taschendieb.
Oder sollte er es doch wissen? Mein Vater war immerhin ein bekannter Mann im System von Paris.
„Nein, wir gehen eine Tasse Tee trinken.“
Und wieder blieb er stehen. Musste er wirklich so furchtbar misstrauisch sein? Was gab es denn nun an Tee auszusetzen!
„Oh…gut…wir haben doch erst Kaffee zusammen getrunken?“
Ich beharrte darauf, dass wir Tee trinken würden. Und als ich ihm Zeit und Ort verriet, blieb er erneut stehen. Entsetzt. Ungläubig.
Und schüttelte heftig den Kopf, sodass seine dunklen, zottigen Haare kurz herumwirbelten.
„Das geht nicht“, teilte er mir dann mit.
Irgendwie hatte ich es ja schon befürchtet.
Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob es nun an Zeit oder Ort lag, dass er so beharrlich dagegen zu sein schien.
„Wieso? Nehmen sie sich einfach ausnahmsweise frei. Ich habe sie doch gesehen, sie bleiben ja nicht einmal am Wochenende zu Hause.“
Das schien ihn dann doch wieder skeptisch zu machen. Unschuldig spielte ich mit dem Reisverschluss meiner Sportjacke.
„Sie haben mich beobachtet?“
„Ab und an gesehen“, korrigierte ich ihn. Wirklich zufrieden schien er mit dieser Antwort nicht zu sein.
Er erzählte mir nur andeutungsweise, dass Fehlen nicht gerne gesehen wurde, und er sicherlich gebraucht wurde. Erst als ich ihm versicherte, mit dem mürrischen Bibliothekar zu sprechen, gab er sich geschlagen, und beschwerte sich zwei Schritte und eine Sekunde später über den genannten Ort.
Dieser, so hatte ich vorgeschlagen, wäre meine Wohnung.
Ganz einfach. Ich wohnte ja nicht zu weit weg von hier.
„Das ist ganz ungefährlich. Ich bin mit dem Auto da.“
Irgendwie hatte es mich am Morgen doch erneut in die Metro gezogen, auch wenn ich ein gutes Stück entfernt geparkt hatte. Wir nahmen also eine Treppe ins Freie.
Am Treppenrand saß ein Bettler der bittend die Hand ausstreckte, und ich beobachtete etwas irritiert, wie Adrien ein Schmuckstück in die geöffneten Handflächen des zerrupft aussehenden Mannes fallen ließ.
„Zauberei?“, fragte ich. Adrien nickte. Sagte: „Manches brauch ich auch nicht.“
Und dann schwiegen wir, während wir ein Stück durch die Straßen schlenderten und die Menschen Paris’ beobachteten. Es erschien mir falsch neben Adrien ganz alttäglich durch Paris zu laufen. Die zukünftige Polizistin mit dem Taschendieb. Ich ahnte, dass es nicht richtig sein konnte, ihn nicht gleich aufs Revier zu schicken, aber es ging nun einmal nicht anders. Nicht für mich.
Ich wusste nahezu nichts von ihm.
Aber ich wollte mehr wissen.
Alles wissen.
„Warum stehlen sie?“
Ich fragte es, als wir vor dem dunklen Mercedes ankamen, den ich fuhr. Adrien begann das Auto mit großen Augen zu umrunden. Ich konnte mich der Vorstellung nicht entziehen, dass er es doch wirklich musterte, wie ein kleines Kind das den großen Gegenstand zum ersten Mal sah und mit ausgestreckter Hand seinen Namen verkündete. Tollpatschig, und mit verwunderten, großen Augen.
Ich lachte leise. Adrien riss sich scheinbar mühsam vom Anblick des Autos los, nachdem er es ausführlich gemustert hatte.
„Irgendwie muss man seinen Unterhalt ja verdienen.“
Ich schloss auf. Bat ihn, einzusteigen, und er kam dieser Aufforderung nach, nachdem ich selbst Platz genommen hatte, und ihm versichert hatte, dass ich ihn schon nicht verraten würde.
Ich meinte es ernst. Irgendwie. Erklären konnte ich es mir ja nicht.
„Könnten sie ihren Unterhalt nicht anders verdienen? Reicht die Arbeit in der Bibliothek nicht?“
Wenn ich an den mürrischen alten Bibliothekar dachte, der die meisten Besucher mit Adlersaugen musterte und die meiste Zeit mit der runden Lesebrille vor einem Buch saß, dann bezweifelte ich das tatsächlich. Adrien schien in der Bibliothek wirklich nicht mehr zu sein als ein Laufbursche und Mädchen für alles, das nun einmal anfiel.
Und da traute er sich nicht einmal, einen Tag weg zu bleiben? Ich runzelte die Stirn und sah dann mit einem schwachen Lächeln zu, wie Adrien fasziniert auf sämtliche Knöpfe des Armaturenbretts drückte, und dabei abwechselnd Heizung, Klimaanlage, und Radio anschaltete.
Nachdem er verstanden hatte, wie das Autoradio funktionierte, ging er sämtliche Sender durch. Ich beobachtete alles fasziniert.
„Sind sie denn zum ersten Mal in einem Auto?“
Er kurbelte die Scheiben herunter. Wir standen immer noch in der Straße in Paris, in der ich auch geparkt hatte. Ich hatte meinen Blick nicht losreißen können. „Ja, sozusagen.“
Aus dem Radio ertönte die Stimme von Bob Marley.
Ich schnallte mir den Sicherheitsgurt um. Adrien war immer noch beschäftigt damit, auf dem Sitz herum zu rutschen, und Spiegel und Fächer zu untersuchen. Ich räusperte mich leise.
„Wollten sie nicht…losfahren?“
„Sie sind noch nicht angeschnallt.“
Ich lächelte ihm zuckersüß zu. Irgendwie war es ja niedlich, wie er sich benahm. Adrien starrte mich eine Weile an, musterte den Gurt, und schien dann endlich zu verstehen, dass das schwarze Band an seiner Seite als Sicherheitsmaßnahme dienen sollte.
Sobald der Verschluss eingerastet war, drückte ich aufs Gaspedal.
Autos und Häuser rasten an uns vorbei. Schnell. Der Wagen schlitterte um eine Kurve und kam an einer Ampel ebenso knapp zum Stehen. Adrien wurde in den Gurt geschmissen. Schnappte kurz nach Luft.
„Wi…wieso rasen sie denn so, wir haben doch Zeit!“
Ich musterte ihn verständnislos. Tatsächlich fühlte ich mich mit meiner Fahrweise absolut sicher. Einen Unfall hatte ich so noch nie verursacht. Völlig arglos gab ich zurück: „Das ist meine normale Geschwindigkeit.“
Und Adrien, der gefährlich an Farbe verloren hatte, ließ sich zurück in den Sitz sinken und nickte nur abwesend.
Eine gute Viertelstunde kämpften wir uns so durch den Verkehr der Innenstadt, der mich zusehends ungeduldig machte. Adrien beobachtete von der Seite wie ich mit den Fingern auf dem Lenkrad trommelte und zu Michael Jacksons „They don’t care about us“ mitsang. Irgendwann zupfte er mir ein loses Haar von der Schulter und sah mich grinsend an, sodass ich erneut verleitet war an der nächsten Ampel zu kontrollieren, ob irgendetwas nicht stimmte. Dann sagte er einfach nur: „Sie singen wie ein Kind.“
Und ich errötete und verstummte beinahe augenblicklich. Ich hatte nicht die beste Singstimme, so viel war mir bewusst, dennoch sang ich oft und viel, meistens ohne es recht zu bemerken.
Ich sang vor mich hin wenn ich gute Laune hatte.
Oder zu viel Zeit.
Wenn es zu still wurde.
Und verfehlte dabei jeden dritten Ton.
Jetzt wurde es wieder still im Auto und allein Michael Jacksons Stimme überbrückte unser Schweigen.
Ich begann, mich mehr auf die Straße zu konzentrieren, jetzt, wo der Text des Liedes nicht mehr über meine eigenen Lippen glitt. Adrien schien die Stille nicht recht zu bemerken, aber er sah mich einen Moment lang an als verstünde er nicht, wieso ich begonnen hatte zu schweigen.
Oder hatte ich einfach nur aufgehört zu singen?
Ich selbst verstand es nebenbei bemerkt auch nicht. Die Wolken über Paris, der Stadt der Liebe, zogen sich immer mehr zusammen während wir uns ein Stück vom Zentrum entfernten.
Es hatte begonnen zu regnen als ich vor dem Hochhaus in dem ich lebte abrupt bremste. Wie schon zuvor schnitt uns beiden bei dem Ruck den es tat der Sicherheitsgurt in die Haut – nicht, dass mich das noch sonderlich gestört hätte.
Nachdem Amel Bent „Ma Philosophie“ im Radio beendet hatte, überließ ich es dem nicht wenig begeisterten Adrien das Radio auszuschalten und wies ihn dann an, auszusteigen.
„Das ist…ne beeindruckende Gegend in der sie da wohnen“, bemerkte er und schlug die Autotür hinter sich zu. Kaum dass ich den Wagen verlassen hatte, benetzte warmer Sommerregen meine Haare und Kleidung. Adrien musterte mich eine Weile mit nachdenklichem Blick. Sekunden. Minuten. Es regnete schwer genug, dass mein Haar mir bald schon im Gesicht klebte.
„Ja“, sagte ich nur. Wir standen immer noch vor dem Gebäude mit Glasfassade und sahen einander an, sahen die Straßen an, und wurden nass vom trommelnden Regen. Die Straße war sauber, wirkte allein dadurch schon penibel und ordentlich. Perfektionistisch. Wohlhabend. Wie stolze Türme erhoben sich die Häuser am Straßenrand. Es gab keine Läden, außer der kleinen Bäckerei am Ende der Straße und einer überteuerten Boutique gleich daneben, aus der ich meine Sportjacke hatte.
Bis auf einige wenige Autos die an uns vorbeirauschten und eine Welle von schmutzigen Regentropfen von der Straße aufrissen, und das stetige, leise Prasseln des Regens, war es still.
Schweigen.
Adrien sah mit den nassen Haaren beinahe noch zerwuschelter aus, und letztendlich betrachtete er grummelnd seine nass gewordene Kleidung.
Ich realisierte erst damit dass wir noch auf offener Straße im Regen standen, und eilte recht schnell unter den überdachten Eingang.
Gab den Code zum Gebäude ein.
Adrien trat so zögernd zu mir ins Trockene, als befürchte er eine Falle im Inneren des Hauses.
Dem wiederum begegnete ich mit einem Grinsen.
Und nahm die Treppe.
Adrien schleppte sich mit mir sechs Treppen aufwärts, freundlicherweise ohne zu fragen, wieso wir nicht den Aufzug nahmen. Wir hinterließen eine Spur von Wasser auf den Stufen.
„Als sie die Treppe genommen haben, dachte ich eigentlich sie wohnen höchstens im dritten Stock“, lachte er, als wir auf der sechsten Etage angekommen waren, und war doch kaum außer Atem.
Es überraschte mich nicht sonderlich. Er war als Taschendieb das Laufen doch sicher gewohnt.
In der Tasche meiner Jeans kramte ich nach den Schlüsseln, und sprach doch weiter noch bevor ich sie hervorziehen konnte.
„Ach ja, ich hoffe du hast nichts…Illegales bei dir. Fred und Sam würden sonst ziemlich grob werden.“
Adrien lehnte sich neben der Tür an die sauber weiß gestrichene Wand. Kurz meinte ich zu sehen wie seine Augen nervös zuckten.
„Illegales?“, wiederholte er. Mit gezücktem Schlüssel nickte ich nur.
„Drogen und so was. Die Hunde riechen das.“
„Was? Normale Hunde wittern doch keine Drogen, oder? Das müssten dann schon Polizeihunde…“
Mein Blick wich seinem aus.
Ich spielte mit den Schlüsseln in meiner Hand.
Musterte ihn aus den Augenwinkeln.
Und bevor er seinen Satz wirklich beenden konnte, wurde ich gerettet. Die Tür der Wohnung, die direkt neben meiner lag, wurde mit einem leisen Knarren geöffnet und die alte Frau die herausschlürfte musterte uns beide mit den wissenden freundlichen Augen einer erfahrungsreichen Witwe, von der man behaupten konnte, das ihr die Enkelkinder fehlten. Wenn ich es richtig in Erinnerung hatte, hatte sie einen Neffen, selbst aber keine Kinder.
„Luise!“, begrüßte sie mich mit einem strahlenden Lächeln und sah mit einem viel sagenden Blick zwischen mir und meinem Gast hin und her. Mir war, als bliebe ihr Blick eine ganze Weile an Adrien hängen, beinahe prüfend, und sie schien dann sich selbst zufrieden zuzunicken.
Adrien murmelte eine Begrüßung. Die Dame lächelte immer noch, wie nur Großmütter es tun konnten.
„Du hast einen Freund mitgebracht. Das ist schon lange her.“, stellte sie fest. Sie stützte sich auf einen kleinen Gehstock, der ihre Gestalt noch runder und gebrechlicher erscheinen ließ. Das schütterte graue Haar bildete lange Locken um ihr rundliches, von Falten überzogenes Gesicht.
Alles an ihr war von all den Jahren sichtlich geprägt. Sie wirkte nicht so, als würde sie ihr bisheriges Leben bereuen. Ich hatte sie dafür schon immer gewissermaßen bewundert – aber wie alle Nachbarn hatte sie ihre Macken, insbesondere wenn der Nachbar wie sie eine einsame Frau war, die die Kinder vermisste, die, wie sie mir erzählt hatte, in ihrem früheren Haus auf dem Land immer im Garten gespielt hatten.
Ich wusste nicht, ob sie in mir eines jener Kinder sah, oder einfach nur das Mädchen, in das ihr Neffe anscheinend so verliebt war, aber sie suchte meine Nähe wann immer sie mich sah, und schien sich wirklich rührend um mich zu sorgen.
Adrien warf mir einen Seitenblick zu bei dem, was die Alte sagte, und ich bereute nicht doch sofort die Tür aufgeschlossen zu haben. Mit einem Mal hatte ich es recht eilig. Es brauchte niemand zu wissen wie selten es war, dass jemand außer Jaqueline hier zu Besuch kam. Ich wollte Adrien nicht als einen besonderen Gast ansehen, und das sollten auch andere, insbesondere er selbst, nicht tun.
Scheinbar tat er es jetzt doch. Die Hundeaugen blickten einen kurzen Moment beinahe mitleidig. Nur beinahe. Dann beendete ich jedes möglicherweise aufkeimende Mitgefühl mit einem scharfen Blick. Madame Poiris hatte fröhlich weiter geredet. Mittlerweile mehr mit Adrien, als mit mir, und erzählte kleine, unwichtige Anekdoten über mich, die sie im Laufe der Jahre gesammelt hatte.
„Es kommen wirklich nur selten Freunde bei Luise zu Besuch. Dabei ist sie ein nettes Mädchen, nicht wahr?“
Ich verkniff es mir ihr mitzuteilen, dass ich kein Mädchen mehr war, sondern eine mit zwanzig bald volljährige junge Frau.
Adrien seinerseits nickte nur brav.
Sie fuhr fort mit einer Erläuterung, wie oberflächlich junge Menschen heute waren, und beendete das Gespräch mit der Feststellung, dass wir beide aussähen als würden wir uns sehr mögen.
Der dünne Faden meiner Geduld zerriss damit.
„Madame Poiris, mein Freund muss bald wieder nach Hause, deswegen…“
Immerhin verstand sie die Verabschiedung recht schnell, und als hätte sie nie etwas anderes vorgehabt, als mir und ihm aufzulauern, schlürfte sie in ihre Wohnung zurück.
„ist sie nur raus gekommen, um mit uns zu reden?“, fragte Adrien ungläubig und ich zuckte die Schultern.
DAS war auch mir schon immer ein Rätsel gewesen.
Als ich die Tür aufschloss und Adrien an mir vorbei in das vom bewölkten Himmel grau erleuchtete Appartement trat, hatte ich die Hunde und meine Warnung schon vergessen.
Ich schloss die Tür hinter mir.
Und dann stürzten sich Fred und Sam mit einem bestialischen Knurren und stetigem Kläffen auf ihn.
Der Arme fiel mit einem Aufschrei nach hinten und kauerte sich neben die Tür während sich beide an seinen Armen festbissen und mich mit Hundeaugen musterten, die gelobt werden wollten.
Ich tat ihnen den Gefallen. Lobte die Hunde, die meinen Gast scheinbar mit größerem Vergnügen aus seiner Ecke herauszerren wollten.
„Das….ja, fein, Fred, Sam! Immer weiter so. Papa wäre so stolz auf euch!“
Zugegebenermaßen fand ich das ganze doch selbst recht amüsant, und streichelte die beiden Bulldoggen, die zumindest aufhörten nach Adriens Fleisch zu schnappen.
Dieser blieb hilflos sitzen und murmelte nur etwas, dass nach einem panischen „Nehmen sie sie weg!“, klang.
Allerdings ließ ich mir Zeit damit.
„Adrien, sie haben doch nicht etwa wirklich Drogen in meine Wohnung gebracht?“, fragte ich mit gespieltem Unglauben, und gleichzeitig spürte ich den erneuten Stich in meiner Brust als ich mich zu fragen begann, was er denn nun eigentlich mit sich herumtrug, dass meine beiden sonst so friedlichen Hunde so reagierten.
Ohne die Hunde zu verscheuchen zerrte ich ihn selbst ein wenig aus der Ecke hervor – er hielt sich beide Arme schützend über den Kopf – und tastete seine Manteltaschen ab, bis ich gefunden hatte, was ich suchte.
Ein kleiner Briefumschlag, gefaltete in der Tasche des Diebes, den ich zu mir nahm und in eine Schublade verfrachtete.
Adrien ließ ich sitzen, und das taten auch die Hunde als sie verstanden hatten, dass ich scheinbar nicht wütend auf den Verbrecher war, und die illegale Ware ja auch nicht mehr bei ihm war.
Adrien wirkte noch zerzauster als sonst als er sich mühsam erhob und unsicher durch den Flur ins Wohnzimmer trat, von dem alle anderen Zimmer abzweigten.
Ich stand ohne ihn zu beachten an der Arbeitsfläche meiner Theke und suchte in den Schränken darüber nach Teebeuteln.
„Schwarzer Tee? Ich habe nichts anderes als schwarzen Tee.“
Damit hatte sich die Frage im Grunde erübrigt, und auch Adrien erkannte die Rhetorik, sank kraftlos auf einen Küchenstuhl, und murmelte etwas von Teufelshunden.
Ich drehte mich mit nassen, wirren Haaren und am Körper klebenden Kleidern zu ihm um, verschränkte die Arme, und versuchte so wie ich war so autoritär wie nur möglich zu wirken.
„Fred und Sam sind ganz harmlos, wenn man nichts Verbotenes bei sich trägt.“ Teilte ich ihm eindringlich mit.
„Sie geben diesen Monstern sogar Namen!“
Einer der Hunde hatte es geschafft, ihm einen Kratzer im Gesicht zu verpassen, der Gott sei gedankt, zumindest nicht blutete.
„Fred und Sam.“, pflichtete ich ihm bei. Und erzählte dann: „Früher waren sie Polizeihunde. Aber Fred hat ein lahmendes Bein und Sam ist halb taub, deswegen konnte man sie nicht mehr nehmen.“
Adrien keuchte. Ich knallte eine Teetasse vor ihn auf den kleinen runden Küchentisch.
„Polizeihund…“, wiederholte er. Ich ließ ihn nicht ausreden.
„Und jetzt erzählst du mir besser wieso du dieses Zeug mit dir herumschleppst.“
Ich setzte mich ihm direkt gegenüber an den Tisch und musterte ihn aufmerksam. Drängend.
Ich wollte nicht hören, dass er selbst auf derlei Dinge angewiesen war. Eigentlich wollte ich auch nicht hören, dass er sie verkaufte. Ich wollte gar nicht, dass er mit diesem Zeug in Verbindung stand, und deshalb war mein Blick von anschuldigender Enttäuschung erfüllt, die mich gleichermaßen zu nagender Ungeduld anstieß.
Die Antwort jedenfalls ließ zu lange auf sich warten.
Er schwieg beharrlich, wich meinem Blick in alle Richtungen aus.
„Hübsche Wohnung.“
Ich folgte seinen hellen Augen in den Raum. Die Küche, die mit cremefarbenen Fliesen ausgelegt war grenzte offen ans Wohnzimmer, dessen Wände zur Straßenseite hin komplett verglast waren. Ansonsten war der Raum nur ausgefüllt mit meinem alten braunen Sofa, über dem noch immer die Bluse mit dem Kaffeefleck hing, und dem Couchtisch, unter dem sich Fred und Sam zusammen gerollt hatten.
Die Tür zum Schlafzimmer stand offen und ließ auf das ungemachte Bett blicken. Normalerweise war ich ordentlicher, aber in der Hektik des Morgens hatte ich vergessen mich darum zu kümmern.
Ich schüttete abwesend und immer noch ungeduldig wartend das heiße Wasser über die Teebeutel in unseren Tassen, dann stand ich auf und schloss die Tür ab. Adrien beobachtete es mit entgeistertem Blick und war augenblicklich aufgesprungen.
„Lui!“
„Bist du abhängig von dem Zeug?“
Ich deutete in Richtung der Schublade und stieß Adrien dann einfach zurück auf den Stuhl.
Seufzend starrte er in seinen Tee. Dann wieder in den Raum.
„Nein.“
Er sagte es ruhig. Ganz überzeugend. Und schaffte es zumindest, mich ein wenig damit zu beruhigen. Dann blitze in seinen Augen erneut die Nervosität. Sein Entsetzen galt den Fotos die auf dem Couchtisch standen und an den Wänden hingen.
Fotos von mir und Jaqueline. Mir und den Hunden.
Mir als kleines Kind neben meiner Mutter.
Mir als Teenagerin neben meinem Vater in Uniform. Das Foto war an einem Tag geschossen wurden, an dem ich aufs Revier gekommen war. Es war der Geburtstag meines Vaters gewesen. Ich war vierzehn auf dem Foto und hatte ihn überraschen wollen. Mein Vater war darauf samt Uniform und Dienstmarke zu sehen, glücklich lächelnd und mich an einer Hand haltend. Ich hatte ein wenig mürrisch drein geschaut. Um nicht zu kindlich zu wirken.
Aber ich ahnte, dass Adrien nichts anderes anstarrte, als die Uniform meines Vaters.
Sekundenlang.
Unruhig.
Und als er dann fragte: „Ist das…“, nickte ich nur und rührte in meinem Tee. „Mein Vater. Er ist Polizeiinspektor. In ungefähr einem Monat werde ich selbst meine Prüfung zur Polizistin machen.“
Ich erzählte es ihm ganz nüchtern. Konnte regelrecht sehen, wie sich seine Fäuste ballten und er sich nervös durchs Haar strich. Mit einem Mal wirkte er unruhig, beinahe zappelig. Ruhig sitzen blieb er jedenfalls nicht mehr.
Stand wieder auf.
Sah zur Tür.
Ich machte mir gar nicht die Mühe, ihm den Weg zu blockieren. Wusste nur, dass es schmerzte, wie unruhig er plötzlich war.
Dass er mir spätestens jetzt kein Wort mehr glauben würde, hätte mir klar sein sollen. Aber das war es nicht gewesen. Ich hatte gehofft, gebetet, er würde mir vertrauen. Mir glauben, dass ich nicht vorhatte ihn zu verraten, so wie ich es für mich selbst mühsam eingesehen hatte.
„Ich sollte besser gehen.“, murmelte er. Seinen Tee hatte er nicht einmal angerührt.
„Wieso hast du es so eilig?“
Ich schlug die Augen nieder um seinem Blick nicht zu begegnen. Dass er wegrennen wollte war verletzend. Ich hatte das bittere Gefühl meines Berufes wegen verhasst zu sein. Ohne dass er mich kannte. Er. Es ging ja nur um ihn. Nicht um die anderen.
„Lui, sie sind die Tochter eines Po…Poli….einer dieser Bullen!“
Er starrte mich an, als wäre seine Reaktion verständlich. Verletzt sah ich ihn an. Lange. Innerlich stritt ich mit mir selbst. Ja, ich war bald Polizistin. Dem Gesetz verschrieben. Allein der Polizei. Und ich hatte den Taschendieb, der auch noch Drogen mit sich herumtrug, her gebracht, um mit ihm Tee zu trinken.
Eigentlich klang es absurd. Undenkbar. Ich hätte daran denken sollen, ihn fest zu nehmen, und er würde verständlicherweise auch erwarten, dass ich ihn zur Polizei bringen wollte.
Weil ich ja Polizistin war.
Und Gesetzestreu.
Und NUR Gesetzestreu.
Aber ich stellte in diesem Moment erneut fest, ja, jede Sekunde wieder, dass ich das nicht war. Nicht bei ihm. Und es auch nicht komplett sein wollte.
Ich stellte fest, das ich persönlich richtete, und ihn, den ich aus irgendeinem Grund nicht an die Polizei verlieren wollte, auch nicht dieser übergab.
Auch, wenn es richtig gewesen wäre – wer wusste denn, was er mitgehen lassen hatte.
Wie bekannt und gesucht er war.
Worin er da feststeckte.
„Stimmt.“, brachte ich nur über die Lippen und war furchtbar enttäuscht von mir selbst. Ja, was hatte ich denn gedacht? Es wäre nur dumm von ihm, mir zu glauben. Aber immerhin war es mein ernst.
„Sie können sich wieder hinsetzen, ich will nur Tee mit ihnen trinken. Und sagen sie mir bitte, warum sie das dabei haben.“
Ich lächelte.
Meine ruhige Stimme war nichts als eine Farce.
Adrien dagegen erschien alles andere als ruhig. Gehetzt.
„Machen sie bitte die Tür auf, Lui!“
„Trinken sie doch wenigstens die Tasse Tee mit mir.“
Aber Adrien wollte keinen Tee trinken, wie ich schnell feststellte. Stattdessen zwang er sich selbst zum Tisch zurück und fragte nach Zucker. Als ich ihm diesen hinstellte löffelte er so lange das weiße Pulver in seinen Tee, das bald schon ein Teil des Getränks übergelaufen war, und sich ein wirklicher Zuckerberg gebildet hatte. Ich beobachtete irritiert wie er den Zucker mit Tee in sich hinein löffelte und mich dabei anstarrte wie eine Maus eine Schlange – und dabei selbst zu lauern schien, auf irgendeinen gefährlichen Schritt von mir. Ich selbst schlürfte völlig fasziniert meinen Tee und konnte meinen Blick kaum von diesem etwas seltsamen Bild abwenden.
Der Taschendieb saß in der Küche der Polizistin und aß Zucker. Trank. Löffelte. Was auch immer – Tee war es jedenfalls nicht mehr.
Als dann nichts mehr übrig geblieben war, bis auf einige kleine Teeblätter und verklebte Zuckerreste sprang er erneut auf.
„Okay? Lassen sie mich jetzt bitte gehen.“
Ich kaute schmollend auf meiner Unterlippe.
„Verticken sie das Zeug?“
Wieder ein Fingerzeig auf die Schublade der Kommode, in der ich den Umschlag untergebracht hatte.
„Nein.“, betonte er wieder. Wippte auf meinem Küchenboden nervös hin und her.
„Lui, bitte.“
„Was haben sie denn bitte dann damit zu schaffen?“
Ich war ungeduldig. Sah auch so aus. Und ich war nahe den Tränen über die Tatsache, dass er wegrennen wollte, vor mir. Verstehen wollte, konnte ich es nicht. Vor Allem aber ahnte ich, dass er mir lange aus dem Weg gehen würde, wenn ich ihn jetzt ziehen ließ. So oder so. Ich konnte ihn nicht ewig hier einsperren, das war mir klar. Aber zumindest das würde er mir ja noch erklären können.
„Ich habe nicht vor, sie zu verraten.“, versprach ich erneut. Adrien musterte mich zweifelnd.
Redete dann aber doch.
„Ich weiß nicht mal, was da drin ist. Ich trage das nur von einer Person zur anderen, ich habe keine Ahnung was genau die damit anstellen.“
Er schien es tunlichst zu vermeiden, mich anzusehen.
„Und wer gibt ihnen den Auftrag dazu?“
Wieder ein Blick zur Schublade. Dann zur Tür.
„Weiß ich nicht.“
„Sollten sie das nicht wissen?“
“Aber ich weiß es nun mal nicht.“
Er blieb dabei. Und mir gingen die Fragen aus. Die Gründe, ihn nicht einfach wegrennen zu lassen. Ihn aus meinem Leben verschwinden zu lassen. Das wäre für uns beide das sicherste, vernünftigste gewesen. Aber ich wollte nicht, das er verschwand.
Der Gedanke schmerzte, ich hätte nicht in Worte fassen können, wie sehr. Ich hatte das Gefühl, er würde eine Lücke hinterlassen.
Mit zusammengekniffenen Lippen sah ich ihn an und wusste nicht recht, was zu tun war. Adrien schlenderte zurück zur Küche und lehnte sich gegen die Anrichte.
„Ich hab es ihnen gesagt, also geben sie mir das jetzt zurück und ich kann gehen?“
Wie bitte?
„Ich kann ihnen das doch nicht zurückgeben!“
„Was wollen sie denn dann damit?“
„Zur Polizei bringen.“
„Aber dann verraten sie mich ja doch!“
Es klang zusammen mit seinem Hundeblick so anschuldigend, dass ich grundlos ein schlechtes Gewissen bekam. „Nein! Zumindest…zumindest kann ich es ihnen nicht wieder geben. Das zeug ist illegal.“
Ich trank meinen Tee und versuchte, beharrlich zu bleiben. Lange, fürchtete ich, würde ich das nicht durchhalten.
„Aber ich brauche das.“
Adrien dagegen schien nicht nachzugeben.
Ich setzte zu einer Antwort an, als er schon hinter mir stand und mit zitternden Händen ein Küchenmesser vor meinen Hals hielt.
Ich hielt die Luft an.
Erschrocken.
Und kämpfte mit den Tränen. Gewann. Ganz knapp.
„Und jetzt…den Schlüssel.“, befahl er ganz knapp. Selbst seine Stimme zitterte. Ich fand, dass es nicht zu ihm passte, anderen zu drohen.
Vielleicht täuschte ich mich?
„Sie würden mich nicht umbringen“, sprach ich meine Meinung aus. Neben der Tatsache, dass meine Stimme davor stand einfach weg zu brechen, klang ich doch ziemlich überzeugt.
„Zumindest will ich das nicht. Aber ich habe keine ruhige Hand. Machen sie einfach, bevor ich sie wirklich noch schneide!“
Das klang doch schon Mal viel freundlicher.
Jedenfalls hielt ich still und zog brav die Schlüssel aus meiner Tasche, die er sich ja ohnehin genommen hätte.
Meine eigenen Finger zitterten als er sie mir aus der Hand riss. Scheinbar mit derselben Feststellung. Wieso ich unruhig war, hätte ich nicht sagen können. Ich hatte keine Angst. Nicht vor Adrien. Ich traute es ihm nicht zu, mir etwas anzutun, und umbringen würde er mich hier erst recht nicht.
Ich beharrte innerlich darauf dass er nicht mehr war als ein Kleinkrimineller, und das vielleicht nicht einmal freiwillig.
Ich glaubte es.
Ich wollte es glauben.
Adrien zerrte mich dicht bei sich zur Kommode um auch den Umschlag zu holen, und hätte das vermutlich auch getan, hätte ich ihn nicht gewarnt.
„Die Hunde.“
Und wieso ich ihm half, konnte ich selbst nicht sagen. Weil es ja keinen Zweck hatte.
Weil die Hunde verletzt werden könnten? Ich verletzt werden könnte? Eher, dachte ich, damit er in aller Ruhe wegkam. Einfach so. Schließlich hatte ich nie vorgehabt ihn hier festzuhalten. Nie vorgehabt, ihn zu verraten. So nah bei ihm konnte ich seinen Herzschlag fühlen. Er war überraschend ruhig dafür, dass seine Hand so zitterte, aber in dem Moment dachte ich nicht weiter darüber nach. Wieso sollte ich auch? Ich konzentrierte mich darauf seiner Anweisung nachzukommen und sperrte die beiden Hunde, die halb geschlafen hatten, seelenruhig ins Schlafzimmer. Ich nahm mir die Zeit ihnen den Kopf zu tätscheln. Fred starrte mich mit treuen Hundeaugen an, die mich daran denken ließen, dass ich immerhin die beiden und Jaqueline hatte, wenn Adrien einfach weglief. Das sollte er schließlich. Welcher Dieb wollte noch mit einer Polizistin zu tun haben?
Und wie sollte ich ihn schon davon überzeugen, dass es okay wäre?
Ja, war es dann denn überhaupt? Sicherlich nicht!
Einen Moment – noch immer über den Hund gebeugt – lugte ich zu der Kommode an der Seite, in der ich Pfefferspray aufbewahrte. Adrien stand nicht weit entfernt, genau genommen hielt er noch immer mein Handgelenk, hatte aber sicheren Abstand zu den beiden Tieren genommen.
Ich verwarf den Gedanken wieder. Selbst, wenn ich mich einfach hätte wehren können – wozu?
Ich hätte ihn gegen mich aufgebracht, und irgendetwas in mir sträubte sich dagegen, ihn mir zum Feind zu machen. Weil ich nicht wollte, dass er mich hasste.
Wenn ich so überlegte, machte es mich traurig, ihn weggehen zu sehen. Denn letztendlich schloss ich die Tür hinter den Hunden und sah tatenlos zu, wie Adrien die Tür aufsperrte, mir einen langen Blick zuwarf und sie dann hinter sich wieder zufallen ließ. Das Geräusch hallte in meinen Ohren wieder.
Im Treppenhaus hörte ich hastige Schritte, dann nichts mehr.
Und das war schlimmer, als jeder Lärm.








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Nelly

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Biscuit Empty
PostSubject: Re: Biscuit   Biscuit EmptyTue Aug 31, 2010 12:51 pm

-. – Danser -. -

Damals hatte Jaqueline mich gehasst.
Als wir Kinder waren.
Als die Welt einfacher war.
Als Jaqueline noch Prinzessin werden wollte, und ich Geheimagentin. Wir waren damals beide sechs Jahre alt gewesen, und hatten auf dem Spielplatz hinter Jaquelines Haus gespielt, wann immer mein Vater seine Schwester Marianne besuchte.
Während die Erwachsenen oben in dem geräumigen Esszimmer voller Andenken an Reisen und Veranstaltungen Kuchen gegessen und lange geredet hatten, saßen wir nebeneinander auf den beiden Schaukeln am Spielplatz und hatten geschwiegen. Das Schweigen kam immer erst nach dem Streit, und der Streit sah immer ähnlich aus.
Jaqueline war nie so gewesen wie ich. Die naturblonde Schönheit mit den Rehaugen, die schon als Kind beeindruckend nach einem Engel mit goldenen Locken ausgesehen hatte, war das genaue Gegenteil von mir gewesen. Man hätte uns nicht als verwandt eingestuft, wenn man uns damals zusammen sah. Mich, das Mädchen mit den braunen, etwas wirren Locken, das schnell wütend wurde und sich beinahe wie ein Junge kleidete. Mich, das Mädchen dass sich wie eine Anführerin aufgespielt hatte, und andere beschützen wollte, ohne es wirklich zu können. Mich, die schon immer gegen alles Unrecht war.
Eigentlich.
Jaqueline war anders. Sie war süß und lieb, ein Engel in schönen bunten Kleidern mit vielen Blumen darauf. Sie spielte damals mit Puppen und ich suchte mir lange Stöcke und schlug sie so lange mit aller Kraft gegen einen Baum, bis der Ast zerbrach.
Jaqueline hatte das nicht verstanden.
Ich hatte es getan, um meine schnell aufkeimende Wut zu besiegen.
Wenn unsere Eltern dann redeten – damals war meine Mutter häufig noch dabei gesessen – begannen wir unseren üblichen Streit, in dem ich Jaqueline von all den Dingen belehrte, die gefährlich waren und die sie niemals tun sollte.
Ich hielt sie für schwach, so wie sie als kleines Kind im Sand das Haar ihrer Puppen kämmte, und auf irgendeine Weise war sie es auch.
Jaqueline fand mit ihrer offenen Art schnell Freunde.
Freunde, die Schnecken gegen Steine schlugen und andere Kinder an den Haaren zogen.
Und immer war ich diejenige gewesen, die ihre Spiele beendet hatte, sie belehrt, gewarnt hatte.
Ich war gegen Ungerechtigkeit gewesen.
Und je älter ich wurde, desto ungerechter, fand ich, wurde die Welt zu mir.
Ich hörte mit zehn Jahren Jaqueline mit ihrer Mutter sprechen. Sah sie durch die Tür, die einen Spalt breit geöffnet war. Sie saß auf dem Schoß ihrer Mutter und drehte eine Locke ihres blonden weichen Haares. Sagte: „Lui ist nicht normal.“ Und „Ich mag sie nicht, sie ist immer gemein zu allen.“
Ich war nicht der Meinung, dass ich gemein war.
Ich sagte den anderen, sie sollen nicht zu nah ans Wasser, aus Angst, sie könnten fallen.
Ich sagte wenn etwas falsch war, und ich wurde wütend über das Falsche und Ungerechte, aus Angst, dass jemand sich verletzen würde. Seelisch und körperlich.
Jaqueline blieb bei ihrer Meinung und als wir älter wurden, und niemand uns mehr überreden konnte zusammen auf einem Spielplatz zu sitzen, ging Jaqueline mir aus dem Weg, und ich mied sie, um ihren wütenden Augen nicht begegnen zu müssen.
Ich lernte damals Karate während sie in einen Nähkurs gegangen war.
Wie waren verschieden gewesen.
Schon immer.
Die Jahre strichen vorbei, die Familienfeiern wurden etwas, an dem ich nicht gerne teilhatte. Ich hatte das Gefühl, dass die Augen die mich musterten, allesamt hasserfüllt waren. Nicht verstanden, was ich tat. Ich hatte das Gefühl, das niemand in dieser Welt mich kannte. Niemand, der außerhalb meiner eigenen Reichweite war. Niemand außer Vater und Mutter.
Jaqueline tat sich mit anderen Kindern zusammen. Irgendwann hörte es auch auf, dass man mich aus der reinen Pflicht zu Geburtstagsfeiern einlud, und damals war ich beinahe erleichtert darüber gewesen.
Und dann, als ich vierzehn wurde, starb meine Mutter. Damals hatte ich längst nicht mehr Geheimagentin werden wollen. Ich hatte überlegt, Jura zu studieren.
Oder Sportler zu werden.
Oder Polizist.
Letzteres war mit einem mal entschieden als man mir mitteilte, dass ein Bankräuber meine Mutter auf der Flucht erschossen hatte.
Ich kannte meine Mutter gut und wusste, dass sie sich ihm nur in den Weg gestellt haben konnte.
Weil meine Mutter nun mal genau so war, wie ich.
Stark und beherzt und leichtsinnig, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Ja, meine Mutter hatte sich geschworen, anderen zu helfen, wenn Hilfe gebraucht wurde, und ich wusste, dass sie bei diesem Raub nur versucht haben konnte, andere zu beschützen.
Sonst wäre meine Mutter nicht gestorben.
Niemals.
Meine Mutter war als Heldin gestorben, das dachte ich in den kommenden, tränenreichen Nächten immer und immer wieder. Rief mir ihr Bild vor Augen und setzte sie mir als Vorbild. Die Frau, mit den schönen blauen Augen und dem langen dunklen Haar, die stark und taff war, und mich als einzige verstanden hatte.
Auf der Beerdigung meiner Mutter warf Jaqueline mir dann keinen bösen Blick zu.
Ich vergoss keine einzige Träne, starrte an dem sonnigen Tag der Bestattung auf das Foto meiner Mutter. Warf eine Rose ins Grab.
Und sagte die letzten Worte zu meiner Mutter, die mir nur die Kette mit dem blauen Anhänger hinterlassen hatte.
„Ich werde es besser machen als du Maman.“
Und mehr nicht.
Ich umklammerte die Kette als ich wegging und hörte, wie die Leute weinten und Kirchenlieder sangen, während ich davon stolzierte und mit einem abgebrochenen Ast gegen alle Bäume schlug, die mir entgegen kamen.
Jaqueline war mir damals gefolgt. Irritiert über mein Verhalten. Sie hatte sich leise hinter einem Baum versteckt und mir zu gesehen – Damals hatte ich sie nicht bemerkt. Denn erst als ich allein gewesen war, hatten die Tränen mir die Sicht genommen, und ich hatte dieses Anzeichen von Schwäche weggewischt. Vergeblich.
Silberne Tränen, gefüllt mir hunderten Erinnerungen waren ins Gras getropft. Geschrieen hatte ich. Hatte all die Wut und die Trauer, den Hass, die Hilflosigkeit, die Einsamkeit aus mir heraus geschrieen, bis mir die Stimme versagt war.
Und Jaqueline, die bis heute ihren kindlichen Eifer behalten hatte, stellte sich neben mich und schrie auch. Mit einer helleren, einer weicheren Stimme. Sah aus, wie ein kleiner Engel, der vom Himmel gefallen war.
Dann fragte sie mich, wieso ich gegangen war.
„Mama mochte große Feiern noch nie besonders.“, war damals meine einzige Antwort gewesen. Trotzig. In meinen Augen blitzte es beinahe angriffslustig. Herausfordernd. Weil ich erwartete, sie würde sich über mich lustig machen, hob ich arrogant das Kinn.
Sie fragte, wieso ich nicht weinte. Ihr selbst rannen die Tränen übers Gesicht. Die engelsgleiche Stimme zitterte, irgendwie war ich gerührt davon.
Ich erklärte ihr, dass es nichts mehr bringen würde, zu weinen. Dass ich stärker werden würde, als meine Mutter.
Imme stärker.
Und die beschützen würde, die sie nicht mehr beschützen konnte.
Alle, die meine Mutter gemocht hatte. Und die ich mochte. Alle würde ich beschützen und für sie stark werden. Und gerecht. Und wenn sie mich dafür hassen wollten, dann wäre das der Preis, den ich zu zahlen bereit war. Wenn sie mich nicht verstanden.
Jaqueline fragte mit ihren Rehaugen, wer auf mich aufpassen würde. Ich klang weniger cool als ich wollte als ich erwiderte, dass ich keinen Aufpasser brauche.
Meine Cousine, die mich schon damals irgendwie doch gut gekannt haben musste, nahm mich einfach in die Arme und sagte, dass ich genauso wäre, wie meine Mutter.
Und das war an diesem Tag das größte Kompliment, und die größte Hoffnung, die man mir schenken konnte.

Seitdem waren wir unzertrennlich. Jaqueline passte mehr auf mich auf, als ich auf sie. Ich wusste das, sie auch, aber wir beide ließen glauben, dass es anders herum war.
Jaqueline stellte mich ihren Freunden vor, und versuchte auch mir neue Freunde zu finden. Jaqueline sprach mit mir über alles, was in ihrem Leben geschah.
Jaqueline übernachtete jede Woche einmal bei mir, und brachte neue Geschichten über Menschen mit, die sie kennen gelernt hatte. Bald schon war das Bild, das ich von ihrer Welt hatte, bunt und detailliert.
Ich begann, auch ihr von mir zu erzählen.
Unwichtigere Dinge, von Dingen wie Gerechtigkeit, Bösewichten und den Comicheften, die ich bis heute lese.
Ja, wir verstanden uns bald gegenseitig besser, als ein anderer auf der Welt uns je verstehen könnte.
Jaqueline und ich.
Der Engel, und die Furie, wie sie mich freundschaftlich nannte, und wie mich alle nannten. Leise, und mit einem Lächeln, das mich das Wort vergessen machen ließ.
Jaqueline war zur Stelle wenn ich sie brauchte.
Ein roter Faden in meinem Leben, der mich daran erinnerte, was mein Ziel war.
Ja, sie war selbst da um sich für mich von einem Taschendieb bestehlen zu lassen, von dem ich ihr immer wieder erzählte.
Wir saßen am Freitagabend in meinem Auto und rasten durch die Straßen von Paris. Jaqueline, die meinen Fahrstil gewohnt war, klammerte sich mit beiden Händen an den Henkeln der Tür fest, und schaffte es trotzdem noch, mich anzusehen und dabei zu lächeln.
„Irgendwie bist du…lebendiger seit du ihn getroffen hast.“, stellte sie fest, nachdem ich ihr mit vor Wut und Enttäuschung bebender Stimme von seinem Besuch in meiner Wohnung erzählte, der so abrupt geendet hatte. Ich verschwieg die Drogen, und sagte stattdessen dass ich aus reinem Reflex die Tür geschlossen hätte, und beleidigt gewesen war, dass er so grundlos flüchten wollte.
Jaqueline lächelte vielsagend und ich grummelte ein „Findest du?“ In den Fahrerspiegel. Immer noch wütend.
Dieser verdammte lausige Dieb!
Adrien, der tollpatschige, feige Vollidiot. Unsensibel.
Und kompliziert.
All das zusammen.
Ich betrachtete mein eigenes Spiegelbild an der nächsten Ampel. Rotes, dann gelbes und grünes Licht brach sich in den Wassertropfen auf der Scheibe.
Ich hatte die Haare hochgesteckt, ein blaues Band eingeflochten, und trug ein kurzes blaues Kleid.
Hatte es Jaqueline überlassen, mich zu schminken, sodass meine Augen jetzt seltsam groß wirkten.
Trotz allem war ich zufrieden.
Ich probte ein Lächeln. Vorsichtig.
Und hörte mir Jaquelines Kompliment an, dass ich großartig aussähe.
Dann gab ich es zurück.
Ihr blondes Haar fiel ihr ins Gesicht, sie trug es offen, rote Ohrringe darunter, und ein ebenso rubinrotes Haarband in den goldenen Locken.
Hatte schöne Rehaugen.
Mit langen dunklen Wimpern.
Wie immer.
Und kirschrote Lippen, die ich seit Jahren um ihre Form beneidete. Dazu trug sie ein hautenges Oberteil und einen kurzen Rock, der die weiße Haut ihrer Beine beinahe zur Gänze freilegte.
Ich musste schmunzeln. Wenn es darum ging auszugehen, machte Jaqueline keine halben Sachen, auch wenn es….für meinen Geschmack zu gewagt war.
„ich habe dich schon lange nicht so wütend erlebt.“, fuhr sie fort, nachdem sie meinen langen Blick regelrecht aufgesaugt hatte. Wir beide wurden in die Sitze gedrückt als ich erneut aufs Gaspedal drückte.
„Oder so…mitgenommen.“
Ich schwieg beharrlich. Knurrte ein „Hm.“
„Du magst ihn ziemlich gern oder?“
Ihren Blick spürte ich auf mir, bis wir die nächste Ampel erreichten. Im Radio lief eine Predigt über Rassismus. Die monotone Stimme des Geistlichen füllte den Wagen aus. Ich schaltete das Gerät genervt ab.
Dachte nach.
Lange.
Mochte ich ihn denn? Den Taschendieb, der mir ohnehin nicht vertraute? Durfte ich ihn als zukünftige Polizistin denn überhaupt mögen?
Ich starrte ziemlich lange regungslos auf die Straße und dachte an die vergangenen vier Tage, seit Adrien geflüchtet war.
Drei Tage hatte ich ihn am Kiosk nicht gesehen, und mich nicht getraut, mich in der Bibliothek blicken zu lassen, in der er sicherlich nicht gefehlt hätte. Heute Morgen hatte ich ihn dann durch die Türen der Bibliothek verschwinden sehen und hatte überlegt, ihm nachzugehen. Mein herz hatte einen kurzen, plötzlichen Sprung gemacht bei seinem Anblick. Dann war sein wuscheliger Kopf im Gebäude verschwunden und ich hatte mir den Gedanken wieder ausgeredet.
Die ganze Zeit über, jede Nacht, wenn ich Michael Jackson anstarrte, hatte ich mir überlegt wie ich ihm entgegentreten sollte, wenn er denn jemals wieder ein Wort mit mir sprach.
Was ich sagen sollte.
Was ich denken sollte.
Wie ich ihm versichern konnte, dass ich ihn gar nicht verraten wollte.
Dienstag war er verschwunden.
Mittwoch hatte ich zum Telefon gegriffen und überlegt, mit meinem Vater über ihn zu sprechen.
Donnerstag hatte ich es dann getan. Ich sagte, er wäre ein Freund. Sagte, dass ich ihm vertraute und wir uns blendend verstünden. Dass ich ihm meinen neuen Freund so bald wie möglich vorstellen würde.
Mein Vater freute sich dezent für mich und war gleichsam misstrauisch, wen ich kennen gelernt haben konnte.
Aber ich wusste, dass er mir vertraute, und damit auch meinen Freunden.
Ich bezeichnete den Taschendieb vor dem Polizeichef als einen Freund.
Und damit hatte ich aufgehört auch nur darüber nach zu denken, ihn jemals fest zu nehmen.
Der Gedanke, er würde mich fortan immer ignorieren, hatte geschmerzt. Jede Nacht. Trotz Michael Jacksons auf dem Foto noch jugendlichen Gesichts konnte ich mich nicht recht von den Gedanken an Adrien ablenken, die mich schmerzlich beschäftigten.
Mich an nichts anderes mehr denken ließen, als das was ich sagen würde, wenn ich ihn wieder sah.
„Ja, ich mag ihn.“,
Jaqueline lächelte zufrieden. Stellte die Frage, mit der ich schon gerechnet hatte.
„So richtig?“
„Nein!“
Ich sagte es viel zu schnell, und viel zu überzeugt, als dass Jaqueline mir wirklich geglaubt hätte, aber so oder so glaubte sie nur das, was sie glauben wollte.
Sie jedenfalls glaubte immer noch, dass ich in dieser schicksalhaften Begegnung am Kiosk meine große Liebe gefunden hätte. Hoffnungslos romantisch, wie sie nun einmal war.
Als sie das letzte Mal bei mir übernachtet hatte, hatte sie es sich sogar heraus genommen, die Kinder zu beschreiben, die wir angeblich haben würden. Irgendwann. Nach einer heimlichen Hochzeit in Las Vegas, in Amerika, und einer langen Hochzeitsnacht auf einem Fischkutter.
Die Hochzeitsnacht, die nie stattfinden würde, davon war ich schließlich überzeugt, beschrieb sie in fünf verschiedenen Varianten, und ich hörte schlaftrunken zu ohne sie wirklich ernst zu nehmen.
„Sie werden groß sein. Und…blaue Augen haben, und die Jungen haben wuschelige Haare wie er. Und alle haben einen Hundeblick, und sind unglaublich geschickt mit den Händen. Und alle werden sie stark und gerecht wie du und Suzanne“, hatte sie geschwärmt. Suzanne war meine Mutter.
Gewesen.
Allein beim Klang ihres Namens griff ich kurz zu der Kette, die ich niemals ablegte.
Jaqueline fand in ihrer erdachten Liebesgeschichte über mich und Adrien die zweiten Romeo und Julia.
Ihre Fantasien diesbezüglich wurden zumindest immer abstrakter, und am Ende der Nacht musste ich ihr hoch und heilig und mit gequältem Blick versprechen, dass sie unsere Hochzeit planen dürfe.
„Aber warum denn nicht?“, fragte sie jetzt. Enttäuscht.
Obwohl sie überzeugt davon war, dass Adrien und ich zusammen gehörten, fragte sie andauernd nach meinen „wahren“ Gefühlen für ihn.
Weil Jaqueline eben Jaqueline war, ließ ich sie reden.
„Weil er ein Taschendieb ist, und ich mich nicht in jemanden verliebe, der mich vermutlich nicht einmal mag.“
„Er mag dich“, versprach Jaqueline.
Es klang ganz wunderbar und beruhigte für einen kurzen Moment sogar meine stumme Hilflosigkeit.
Wir parkten vor der Disco aus der Lärm und buntes Licht zu uns drang.
Es roch nach Alkohol, süßlichen Räucherkerzen und Erbrochenem, alles überdeckt durch den Geruch schweißnasser Haut.
Die Straße war nass und duftete nach dem kürzlich vorbeigezogenen Sommerregen. Ich stieg umständlich auf der Beifahrerseite aus, strich mir hastig das blaue Kleid glatt. Meine Handtasche baumelte an meiner Seite, ich hätte mich geweigert sie weg zu legen. Kurz zupfte ich den Ausschnitt meines Kleides zu Recht. Zog skeptisch die Stirn in Falten.
Auch wenn ich lange nicht so gern Haut zeigte wie Jaqueline – ich hatte selten etwas dagegen mich allein oder nach Jaquelines Anleitung in die verschiedensten Kleider zu werfen, neue Frisuren zu testen, beobachtete immer wieder erstaunt die Veränderung die man mit anderen Haaren, anderer Schminke und anderen Kleidern erzielen konnte.
Es ließ mich für einen Moment lang fühlen wie ein anderer Mensch.
Eben dieser Gedanke war gewissermaßen aufregend.
Jaqueline warf ihr langes Haar zurück und lauschte mit offensichtlicher Genugtuung und einem dazu passenden Grinsen dem Pfeifen der vorbeilaufenden, scheinbar angetrunkenen jungen Männer, die mit den tiefen Augenringen aussahen wie dreißig, und dabei sicherlich jünger waren.
Meine Cousine hatte mir für den Abend versprochen, mich abzulenken, und dabei wollte sie mir noch ihren neuen Schwarm vorstellen.
Den unfreundlichen Typen der im Kino arbeitete.
Und in einer solchen Disco verkehrte.
In der ich mich auf Anhieb verloren fühlte.
Warme Körper drängten sich in dem nachts lebendigen Kellerraum aneinander. Stimmengewirr mischte sich unter den donnernden Bass der Musik.
Alors on danse.
Jaqueline zog mich weiter.
Menschen stießen gegen mich. Brüllten mich an. Brüllten sich gegenseitig an, um die Musik zu übertönen. Es war ein durcheinander an Leibern. Groß.
Unübersichtlich.
Dunkel.
Angestrengt späte ich in den Schatten. Kunstnebel, im Licht zuckend rosa und grün nahm mir für einen Moment die Sicht und ließ meine Augen brennen.
Alors on chante.
Jaquelines Körper bewegte sich geschmeidig im künstlichen Licht. Zu der Melodie, die aus den Lautsprechern an uns heran drang.
Zog mich zur Bar.
Und deutete in all dem Lärm mit ihren schmalen Fingern auf einen jungen Mann der dort lehnte, ein Glas in der Hand in dem sich rote Flüssigkeit befand. Irgendein Cocktail.
Ich verzog schweigend das Gesicht und ließ mich mitzerren. Jaqueline brüllte mir den Namen ihres Freundes entgegen, den ich trotz ihren Bemühungen kaum verstand.
Tony. Das war der Name.
Ein Amerikaner, sagte sie. Ich hob grüßend die Hand. Umklammerte mit der anderen Jaquelines Finger fester, die ihren Freund trotz mir an ihrer Seite begrüßte, wie es für Franzosen nun einmal üblich war: Mit einem angedeuteten Kuss auf beiden Wangen. Über Jaquelines Schulter warf Tony mir noch immer einen nicht zu deutenden Blick zu.
Er hatte um das Kinn herum Bartstoppeln, einen dafür gut gepflegten Kinnbart und wirr wirkende Locken, die länger waren als die von Adrien und ihm beinahe bis auf die Schultern reichten.
Sein Blick störte mich.
Er hatte etwas Raubtierhaftes.
Schien die Mädchen um ihn herum – einschließlich Jaqueline und mir – wie Beute zu mustern. Wie Waren. Gegenstände. Spielzeuge. Es war der Typ von Blick an einem Mann, der mich sofort davon abhielt mit demjenigen zu verkehren. Man konnte sich beinahe sicher sein, dass derjenige es nicht ernst mit einem meinte. Nur auf den Körper achtete, den man sein Eigen nannte.
„Hab dich noch nie hier gesehen“, brüllte mir Tony mit einem deutlich amerikanischen Akzent zu. Sein französisch war nicht so weich wie die Einheimischen es sprachen. Nicht so elegant. So wie Tony die Sprache sprach war sie hart und ruppig. Irgendwie rau.
Ich mochte es nicht.
„Ich bin auch das erste Mal hier“, schrie ich zurück. Es kam mir affig vor, so laut zu schreien. Discos waren kein Ort um ein vernünftiges Gespräch zu führen.
Besorgt wie eine Mutter beobachtete ich wie der Amerikaner und Kinoarbeiter seine Hand auf Jaquelines Taille legte, die sich immer noch zu dem laufenden Lied bewegte.
Just dance.
Ich wippte lediglich mit dem Fuß mit. Hatte nicht wirklich die Stimmung um zu tanzen.
„Sie mag Buden wie die hier nicht!“, brüllte Jaqueline Tony ins Ohr, der sie gut genug zu verstanden haben schien und sich ein Stück von ihr weglehnte. Näher zu mir.
„Gefällt dir der Laden?“
So wie er es aussprach klang es wie: „Gefällt dir die Aussicht?“
Und allein deswegen, und weil es die Wahrheit war, schüttelte ich augenblicklich den Kopf.
Tony schob mir und Jaquelines zwei Gläser zu, die mit jenem roten Getränk gefüllt waren.
Ich strich mir das Haar zurück. Lehnte dankend ab. Und wollte eben sagen, dass auch Jaqueline nichts trinken würde, aber diese hatte sich das Glas schon gekrallt, sich halb auf Tonys Schoß gesetzt, und die Hälfte in einem Zug geleert.
Ich schluckte meine Warnung mühsam herunter.
Tony und die Freunde, die er um sich geschart hatten, und die alle recht finster auf mich wirkten, lag es nun am Licht oder nicht, sahen mich an wie man einen Spießer betrachtete.
Tonys Blick wandelte sich schnell wieder. Wurde anzüglich. Er verfrachtete Jaqueline auf einem Stuhl neben sich und erhob sich um sich mir zu nähern.
Ich blieb aus reinem Trotz stehen. Er kam so nahe, tanzend, dass ich den süßlichen Alkohol aus seinem Mund riechen konnte. Der Geruch trieb mir Tränen in die Augen.
„Tanzt du?“
Tanzt du mit mir?
Ich warf erneut mein Haar zurück. Um besser zu sehen.
Tony sah es als ein Ja und legte eine Hand um mich, die ich wütend wegstieß und zu einer Antwort ansetzte – einer giftigen Antwort – als ich in der Menge ganz kurz einen wuscheligen Kopf aufblitzen sah. Braune Locken. Und ich riss mich erneut von Tony los, der meine Hand gegriffen hatte.
„Ich muss zur Toilette“
Seine Bemerkung, er könne mich begleiten, ignorierte ich geflissentlich. Drängte mich durch die ständig bewegten Körper um den zerzausten Schopf wieder zu finden, den ich zu sehen gemeint hatte.
Ich kam bei der Toilette an.
Sah ihn immer noch nicht.
Und als ich die Haare im Licht wieder sah, und das Gesicht gleich dazu, musste ich nicht minder enttäuscht feststellen, dass es nicht Adrien gewesen war.
Nur langsam begann ich mich zu fragen, wieso ich ihn überhaupt so dringend sehen wollte.
Wo er mich doch nicht sehen wollte.
Ich biss mir auf die Unterlippe.
Schwer verletzt.
Und öffnete die Tür zur Toilette um meinen Nacken mit Wasser zu benetzen. Die Luft war schrecklich stickig. Feucht und von so vielen Gerüchen erfüllt, dass es erdrückend war.
In der Toilette stand ein Fenster gekippt und ließ kalte Nachtluft in den engen Raum. Ich hörte aus einer der Kabinen die würgenden Geräusche eines sich übergebenden Mädchens, und mit aufkommendem Ekel dachte ich an die vielen Momente, in denen mein Vater mich davor gewarnt hatte, ich Discos fremde Getränke anzunehmen. Das Glas auch nur einmal stehen zu lassen.
Mich vor Drogen und Männern und Alkohol gewarnt hatte. Und die Erkenntnis bohrte sich zusammen mit der Aufregung in mein Herz wie ein Pfeil.
Jaqueline.
Die ich allein gelassen hatte.
Trank aus dem fremden Glas, und war noch immer bei diesen Typen, die mir nicht geheuer waren. Ich spürte das schlechte Gewissen an mir nagen, mit spitzen Zähnen wie sie nur eine böse Vorahnung haben konnte. Mit einem Stöhnen verstummte auch das Würgen aus der Kabine. Die Musik drang durch die Toilettentür in den mit weißen Fliesen ausgelegten Raum.
Dance everybody
Beunruhigt stürmte ich aus der Toilette und rannte dabei beinahe in zwei Gestalten, die sich so eng aneinander drückten, dass schwer zu erkennen war, was wessen Haut war. Das Mädchen verbarg ihr Gesicht an der Schulter ihres Tanzpartners. Schwankte sichtlich. Seine Hand zeichnete sich unter ihrem T-Shirt ab. Ich wandte den Blick ab und begann erneut zu rennen, so schnell es mir die Körper der Fremden erlaubten die sich immer wieder in den Weg stellten. Es kam mir vor wie eine Verschwörung. Ich redete mir ein, mich umsonst zu sorgen. Wie ich Jaqueline kannte würde sie vertrauensselig mehrere Gläser nacheinander leeren und ganz darauf vertrauen, dass ihr nichts passieren konnte.
Weil ich da war.
Und als ich an der Theke ankam, war sie tatsächlich verschwunden. Einfach so. Hatte dunkle Leere und tanzende Schatten zurück gelassen, und einen einzigen von Tonys Truppe, der über sein Glas gebeugt an der Theke saß und mich nicht kommen sah bevor ich ihn hochriss und gegen die Bar drückte.
„Wo sind sie hin?“
Ich war außer Atem. Und klang alles andere als geduldig. Die blonden Rasterlocken des verdutzten Mannes fielen ihm ins Gesicht. Er schien mich nicht verstanden zu haben.
Schreiend wiederholte ich meine Frage. Als er grinste schlug ich ihm mit ganzer Kraft ins Gesicht.
Wenige Tanzende erstarrten kurz und kehrten bald in ihren Rhythmus zurück. Streitigkeiten waren sicherlich nicht selten hier.
Als er den Kopf zu mir zurück drehte und mich ansah rann Blut aus seiner Nase. Es kümmerte mich nicht. Meine Hand schmerzte ein wenig von dem Schlag. Der Mann schien nun nicht mehr verdutzt sondern erschrocken.
Damit hatte er nicht gerechnet. Es erfüllte mich mit ein wenig Genugtuung diese Verwirrung in seinem Blick zu sehen, dann wiederholte ich aber noch einmal die Frage.
Dieses Mal deutete er zur Treppe, die nach oben auf die Straße führte, und nachdem ich ihn eindringlich angesehen hatte konnte er mir auch sagen, dass sie meine Freundin bei sich hatten als sie gegangen waren.
Er lächelte wieder.
Sagte, dass sie durchaus hübsch gewesen war.
Der Klang der Worte, die sich anhörten wie Beschreibungen eines Markenproduktes, entfachte die Wut in mir. Ich ließ ihn fallen.
Der Weg zurück durch die Menge erschien mir dieses Mal einfacher als noch einen Moment zuvor. Die Tanzenden nahm ich kaum war. Schob Hände beiseite, schuf mir grob einen Weg durch die Menschenmasse, die sich immer schneller wieder zu schließen schien.
Die Nachtluft war beinahe brennend auf meiner Haut als ich ins Freie trat und angestrengt tief durchatmete. Auf Stimmen lauschte. Schritte. Den Atem der Nacht.
Die Kälte, gefangen in schneidendem Wind schloss sich um meine nackte Haut. Es war frisch geworden, nach dem Regen. Nach der heißen Disco fühlte ich mich wie nach einem abrupten Sprung in kaltes Wasser.
Das flammende Licht der Straßenlaternen umflutete mich. In den Geruch des Asphalts und des Regens mischte sich süßer Alkohol. Ich späte um die nächste Ecke. Hielt die Luft an.
Mit mühsam bewahrter Ruhe kramte ich mein Handy aus der Tasche hervor, die ich Gott sei Dank mitgenommen hatte, und verschickte eine stumme Nachricht an meinen Vater, in der ich nicht mehr genannt hatte als ein kurzes Wort des Hilferufs, Jaquelines Namen, und den der Straße. Dann schickte ich ab.
Vertraute darauf, dass mein Vater sein Handy dabei und angeschaltet hatte, wie er es sonst immer zuverlässig tat. Abermals wanderte mein Blick mit klopfendem Herzen in die Straße. Das Handy fiel lautlos zurück.
Ungefähr in der Mitte der Gasse stieß ein Körper gegen eine scheppernde Mülltonne. Raue Stimmen lachten. Eine höhnische Melodie in den Schatten der Hauswände. Ich hörte Jaqueline schlaftrunken einige Worte murmeln, begleitet von meinem rasenden Herzschlag. Zitternd – mehr vor Wut als vor Angst – fand meine Hand das Pfefferspray in meiner Tasche. In solchen Moment wäre ich gerne bereits eine Polizistin gewesen. Hätte gerne eine Waffe gehabt. Eine effektivere, stärkere Waffe.
Und trotzdem rannte ich in dem blauen Kleid das ich trug auf die schattenhaften Gestalten zu.
Leichtsinnig.
Blind vor Wut.
Hatte nur die Dose in der Hand und die verzweifelte Kraft die ich mir selbst anmutete.
Jaqueline lehnte an der Wand auf dem Boden und ich kann nicht umhin ihr einen kurzen, verletzten Blick zuzuwerfen.
Die fünf Gestalten – Mein Gott, Fünf! – bemerkten mich zumindest erst so spät, dass ich dem ersten zu mir herumreißen konnte, ihm mit einem Schlag den Kopf nach hinten riss und mein Knie in seinen Magen rammte.
Spät genug für einen.
Zu früh sahen sie mich für alle anderen.
Tony, dessen Gesicht ich im rötlichen Licht der Straßenlaterne nun deutlich lächeln sah, drehte sich zu mir um. Er sah aus wie ein Krimineller. Ein gewalttätiges Monster. Ein Mörder. Die Angst spürte ich zu spät und zu gedämpft als dass sie den Zorn überschatten konnten.
Mit einem Aufschrei stürzte ich mich direkt auf den Anführer der Fünf und drückte ihn allein mit meinem Gewicht zu Boden, riss die Faust hoch um auf ihn einzuschlagen.
Es tat weh.
Zwei starke Arme zogen mich weg von dem am Boden liegenden, der lachte. Lange. Und schallend. Und blind vor Zorn nahmen mir Tränen die Sicht. Die Wut hatte sich brennend wie ein enger Knoten um mein Herz gebunden. Zog sich weiter zusammen. Und ließ mich wieder und wieder wie von Sinnen schreien und um mich schlagen, aber die beiden anderen hielten mich weit genug von sich entfernt als dass ich sie getroffen hätte.
Dafür stand Tony direkt vor mir.
Bekam meinen Schuh zwischen die Beine gerammt und stöhnte auf vor Schmerz, was mich in diesem Moment wenig interessierte.
Die Arme, die für mich in der Dunkelheit keine zugehörigen Gesichter hatten, stießen mich neben Jaqueline zu Boden, die die Augen halb geschlossen hatte und kaum etwas mit zu bekommen schien.
Ich schrie ihren Namen.
Hilflos.
Und spürte fremde Hände an meinem Körper, die an dem blauen Kleid zerrten und sich nicht abschütteln ließen. Noch immer war es die Wut die mich fauchen ließ wie eine wilde Katze und dafür sorgte, dass ich zumindest nach den Händen schlug und Haut mit meinen Fingernägeln aufschürfte. Ich tastete nach dem Pfefferspray, das mir aus der Hand gerutscht war, und stellte mehr verwundert als wirklich entsetzt fest, dass es zu weit weggerollt war.
Eine flache Hand schlug mir ins Gesicht.
Ich nahm es nicht wirklich wahr.
Dachte an meiner Mutter, die nicht stärker gewesen war als ich. Dachte daran, dass ich nicht so leicht besiegt werden sollte.
Die Hand schloss sich um mein Kinn und hob meinen Kopf an. Schmerz pulsierte an meinen Armen und in meinem Kopf. Tony, der über mir stand und wieder grinste, starrte ich schwer atmend an und wünschte, jemand würde ihm den Kopf abreißen.
Ich hatte selten so viel Wut gespürt wie jetzt.
Und so viel Hoffnungslosigkeit.
Weil es zu viele Hände waren, die mich packten, und verhinderten, dass ich mich wehren konnte.
Tony zog ein Messer und schnitt durch den Stoff meines Kleides. Halb in Trance fühlte ich mich als ein Zuschauer. Nicht mehr. Spürte keinen Schmerz mehr.
Und dann sah ich Tonys Körper beiseite fliegen und die anderen beiden krümmten sich zusammen und kauerten sich auf den Boden. Was – oder viel mehr wer – sie getroffen hatte, erkannte ich nicht mehr Recht.
Mir vielen die Augen zu. Aber Tony, der scheinbar wieder zu sich gekommen war, brüllte etwas als sich Polizeisirenen näherten. Dann entfernten sich hastige, schleppende Schritte.
Ich blinzelte gegen das Licht der Straßenlaterne und tastete meinen Hals nach der Kette ab, die da hing, wo sie sein sollte. Erleichtert rang ich mich zu einem Lächeln durch.
Gegen das Licht stand eine Gestalt und sah auf mich herunter, lange, bevor sie selbst die Sirenen wahr nahm und mit wehendem Mantel davon rauschte.
Einen kurzen Moment lang glaubte ich, wunderbar weiche dunkle Locken auf dem Kopf des Retters gesehen zu haben, der um die Ecke verschwand, und mit ihm der letzte Rest meiner Energie.
Ich griff mit schwindendem Bewusstsein nach Jaquelines Hand und drückte sie ganz fest. Mit der anderen umklammerte ich die Kette der Frau, die mein größtes Vorbild war und vor Jaqueline der einzige Mensch, der mich je verstanden hatte.
Dann hielten die Autos an.
Und Pierre – der Neffe meiner Nachbarin an den ich mich endlich erinnerte, weil er mich schon als Jugendlicher immer wieder durch den Türschlitz beobachtet hatte, wenn ich aus der Wohnung gegangen war – fand uns.





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Nelly

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Biscuit Empty
PostSubject: Re: Biscuit   Biscuit EmptyTue Aug 31, 2010 12:54 pm

-.- Retrouver -.-

Im Polizeirevier roch es nach frisch gekochtem Kaffee. Der Duft kroch mir in die Nase und rief langsam meine Sinne zurück. Dass ich mich an dem dunklen Getränk verbrannte störte mich nicht.
Meine Hände zitterten, hielten die heiße Tasse fest umklammert, die Hand meines Vaters, der neben mir saß und mich besorgt musterte, ruhte auf meiner Schulter.
Die unterdrückte Panik in seinem Blick rührte mich und schockierte mich gleichermaßen.
Ich hatte nicht gewollt, dass er sich sorgte.
Wollte nicht, dass er mich auch noch verlor.
Nach Mama.
Nach Suzanne.
Sie hatte eine brennende Leere hinterlassen, und mein Vater hatte sich über diese hinaus verändert. Die Arbeit ernster genommen und alles getan um den Bankräuber zu schnappen, der den Tod meiner Mutter verschuldet hatte. Und als er ihn schließlich gefunden und fest genommen hatte, war von dem Hass und der Wut nicht mehr übrig geblieben als die dumpfe Erschöpfung und niemals endender Kummer.
Ja, der Verlust hatte ihn ausgezehrt.
Ich rang mich zu einem Lächeln durch, das ihn trösten sollte. Aber mein Vater schüttelte nur schwach den Kopf und ich bemühte mich, seelenruhig Kaffee zu trinken und meinen zukünftigen Kollegen mit mühsam ruhiger Stimme die Täter zu beschreiben.
Das wirre lockige Haar Tonys. Den Raubtierblick.
Bei alledem flammte sein Gesicht wieder vor meinen geschlossenen Augen auf und entzündete die Wut in mir zu einem brennenden Flammenmeer das meine Energie nur so verzehrte.
Ich erinnerte mich schwach an die schemenhafte Gestalt, die mich neben den Polizeisirenen gerettet hatte, mich und Jaqueline, und spürte eine Ruhe die von meinem Zorn ablenkte. Ich erinnerte mich nicht, wer es gewesen war. Nicht an sein Aussehen. Keinen Namen. Kein Gesicht.
Aber mir wurde mit jedem Gedanken den ich daran vertat mehr bewusst, dass das ganze gefährlich hätte enden können. Ich wollte mir nicht unbedingt ausmalen was mit mir und Jaqueline passiert wäre, wäre dieser Fremde nicht aufgetaucht, und wäre die Polizei nicht rechtzeitig da gewesen, vor der auch der Retter geflohen war.
An meiner stummen, unwissenden Dankbarkeit zu dem Namenlosen änderte das für den Moment wenig.
An dem billigen Cafeteriatisch saß neben mir und meinem Vater der blonde Pierre, der sein Grinsen aus der Boxhalle verloren hatte und mich ernst und besorgt musterte. Pierre, der den Wagen gefahren hatte, hatte sich wahrlich rührend um Jaqueline und mich gekümmert. Keine Fragen gestellt. Ich brauche wohl kaum zu erwähnen dass die schweigende Fahrt zum Revier gegenüber all dem Lärm des Abends ungemein wohltuend war.
Jaqueline war zu meiner Erleichterung nicht verletzt worden. Ich hatte die Gruppe überrascht bevor sie sich dem Mädchen zuwenden konnte, dass jetzt wohlbehalten auf dem alten Ledersofa in der Cafeteria des Polizeireviers saß und durch die Droge noch immer mit leerem Blick vor sich hinstarrte. Aber immerhin in einem Stück und in nicht allzu langer Zeit wieder wohlauf und bei alten Kräften.
Ich selbst hatte ziemliches Muskelkater und Schmerzen am ganzen Körper. Stand noch immer etwas neben mir. Nur ein wenig. Aber dem geheimnisvollen Fremden sei Dank selbst ansonsten unverletzt. Lebendig.
War das nicht die Hauptsache?
Die Neonröhren an der Decke flimmerten leicht und warfen ihr Licht über die halb vertrockneten Topfpflanzen am Rande des Raumes und wurden von den Plastikflächen der Tische gespiegelt.
Als ich mit meiner Beschreibung am Ende war zog sich Pierre schweigend zurück um im Computer nach Tony und den anderen zu suchen. Allzu großen Erfolg hatte er damit nicht.
Tony war als fünfzehnjähriger in Amerika wegen Drogenbesitzes fest genommen wurden.
Zu den anderen, die ich nur im halbdunkel schemenhaft erkannt hatte, fand er nichts.
Mein Vater riet mir mich auszuruhen und versprach, Jaqueline sicher nach Hause zu bringen. Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und drückte noch einmal ermutigend Jaquelines Hand bevor ich das Gebäude selbst verließ.
Nachdachte.
Und in Gedanken hunderte Bilder malte, in denen Tony vorkam. Vernichtet. Ertrunken. Erschossen.
Ja, ich war wütend.
Aber war es nicht nur verständlich, dass ich das war? Mit einem Aufschrei boxte ich vor mir in die unschuldige Luft, die davon wenig mit zu bekommen schien.
Nachtwind zerzauste mein Haar.
Ich hatte mein Auto bei der Disco stehen lassen.
Und weil es schon auf den frühen Morgen zuging, und sich keiner mehr in den Straßen vor dem Revier befand, weil ich unruhig war und noch immer flaue Angst verspürte, lieh ich den Wagen meines Vaters – den er mir in Anbetracht meines Fahrstiles aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund nur sehr widerwillig und schweren Herzens überließ - und machte mich auf dem schnellsten Weg nach Hause.

Das, was von der Nacht übrig geblieben war, schaffte meiner Unruhe keine Linderung.
Ich wälzte mich im Bett hin und her. Die Laken fingen meine Bewegungen ab. Das Kissen barg meine wütenden Schreie.
Jaqueline war in Gefahr gewesen. Ich hatte sie nicht beschützen können. Ich war völlig nutzlos gewesen, konnte nur Hilfe rufen.
Und die wäre vielleicht zu spät gekommen. Stattdessen hatte ich es nicht anders gemacht als meine Mutter vor Jahren zum Zeitpunkt der Gefahr. Mich leichtsinnig dazwischen geworfen hatte ich mich.
Mich selbst gefährdet.
Und wären die Sirenen nicht früher gekommen, und wäre dieser unerkannte Fremde nicht gewesen, ja, wer weiß was dann?
Ich fühlte mich schwach.
Hilflos.
Nutzlos.
Sah alles, wofür ich innerlich kämpfte mit der Einsicht meiner Schwäche verbrennen.
Michael Jackson starrte noch immer mit den selben Augen aus seinem alten Poster auf mich herab und lächelte.
It doesn’t matter who’s gonna fight
Ich warf den armen Michael Jackson mit meinem Kissen ab und warf mich also ohne Kissen für meinen Kopf wieder ins Bett. Um mich weiter zu wälzen.
Um irgendwann in einen traumreichen Schlaf zu fallen, der erfüllt war von dem einen und einzigen Lächeln meines Taschendiebes. Der verdammte Taschendieb, der mich nicht sehen wollte, und den ich so gern an meiner Seite wüsste.
Den neuen Freund.
Den Menschen, der mir nicht aus dem Kopf ging.
Und daneben war Tony, der über mich lachte, meine Schwäche verspottend, und mit Jaqueline alles von mir nahm, was mir wichtig war.
Dann gegen Morgen ertönte in meinem Traum der laute Knall einer Pistole als Tony den Dieb erschoss.
Ich fuhr mit einem Schrei auf.
Weinend.
Das also war der Morgen.

Es war mir schwer gefallen letztendlich das Haus zu verlassen. Meine Nachbarin, die von Pierre von allem erfahren hatte, stand schon am frühen Morgen nachdem ich so unsanft aufgewacht war vor meiner Tür und schenkte mir Kekse. Sie leistete mir bei einer Tasse Tee Gesellschaft, die ich ihr auf ihren drängenden Blick hin hatte anbieten müssen, und durchlöcherte mich unsanft mit den taktlosesten Fragen, die mich manchmal wütend, manchmal traurig machten.
Sie fragte mich nach Tony, nach meinem Befinden, nach Jaqueline, danach, wie das alles hatte passieren können, und sie fragte nach Adrien.
Der Freund, der, so dachte ich, nicht wiederkommen würde.
Ich sagte auch das Madame Poiris und diese bemitleidete mich ganz rührend während ich mir schlecht gelaunt die versüßten Kekse in den Mund schob, von denen ich im Laufe der Jahre schon so viele gegessen hatte, dass ich sie abgrundtief hasste, und sie meine Laune stetig verschlechterten.
Davon abgesehen war Madame Poris eine ganz umgängliche Person mit nichts als guten Absichten, die mir jede Woche eine Schale ihrer selbst gebackenen Kekse schenkte, die ich nicht haben wollte, aber die ich mich nicht traute abzulehnen.
Madame Poiris hatte eine Art, die einen zum Ja-sagen zwang.
Nachdem ich meine Nachbarin also mühsam abschütteln konnte saß ich mit einem Berg von Keksen an meinem Küchentisch, starrte abwechselnd das Telefon und die alten Zeitschriften mit Michael Jackson an, den ich nun eigentlich wirklich nicht so sehr vergötterte, der mich aber nun mal meistens nicht so sehr an Adrien erinnerte, dass ich wirklich über ihn nachgedacht hätte, und spülte die Süße auf meinen Lippen mit Leitungswasser weg.
So verging gut eine Stunde in der ich mich zum einen fragte, wieso Madame Poris so früh wach war, und ob Adrien schon in der Bibliothek war.
Ob Tony davon kommen würde.
Ob Adrien mir je wieder glauben würde.
Ob es Jaqueline gut ging, und warum Pierre seiner alten Tante so viel von mir erzählte.
Ich hielt die Tatenlosigkeit bald nicht mehr aus. Starrte Löcher in die Luft und überlegte, ob ich die Ruhe die ich mir selbst nach dem gestrigen Stress verschrieben hatte, denn überhaupt brauchen konnte.
Fred und Sam, ganz die verschlafenen Riesenhunde die sie nun einmal waren, lagen unter dem Couchtisch und brummten ab und an im Schlaf.
Die einzige Gesellschaft, die ich hatte.
Bald begann ich erneut damit das mögliche Gespräch mit Adrien im Kopf zu planen, und wusste doch, dass ich nichts davon jemals wirklich sagen würde. Stattdessen packte mich die tiefe Verzweiflung zusammen mit der Ahnung, dass ich überhaupt gar nicht wusste, wie ich ihn je wieder ansprechen sollte.
Und genauso wenig verstand ich so recht, wieso ich das unbedingt wollte.
Dann wurde die Stille unerträglich und ich ging endlich doch außer Haus. In die Sonne.
Von dem gestrigen Regen war nichts mehr zu erkennen, der Sommer war zurück.
Weil ich mein Auto nicht hatte, nahm ich das von meinem Vater und kurvte eine halbe Stunde ziellos durch die Stadt.
Und dann zur Metrostation im Zentrum.
Und zum Kiosk.
Mir war regelrecht als zöge es mich genau dorthin, nur um einen billigen Kaffee zu trinken und über die Erinnerungen zu reflektieren, die ich in den letzten Wochen gemacht hatte.
Nur die knappe Hälfte davon war wirklich angenehm.
Wenn ich großzügig davon absah, dass es meiner Moral nicht wirklich entsprach, und ich ein schlechtes Gewissen haben sollte.
Alles bereuen sollte.
Aber das schlechte Gewissen stellte sich nun einmal nicht ein.
Mittlerweile dampfte der Kaffee in meinem Becher fröhlich vor sich hin, ohne dass das Heißgetränk von mir angerührt wurde. Mein Blick schweifte derweil durch die Menge. Ich redete mir ein, nicht wirklich nach ihm Ausschau zu halten, aber im Grunde tat ich es doch. Und wusste doch nicht, wieso er zum Kiosk kommen sollte. Zu mir.
Statt Adrien meinte ich dann andauernd, Tonys Kopf in der Menge zu erblicken, und war jedes Mal drauf und dran den Elektroschocker, den ich mir unerlaubter Weise von meinem Vater ausgeliehen hatte – was dieser noch nicht wusste – und den ich in meiner Handtasche verfrachtet hatte, zur Vorbeugung eines ähnlichen Ereignisses wie am Vorabend, zu ziehen und mich auf die Erscheinung zu stürzen, die sich dann meist als ein unschuldiger Bettler oder Straßenmusiker, oder ein einfacher Passant mit längerem Haar herausstellte.
Ich verwechselte es jedes Mal.
Blieb mühsam sitzen.
Und schürte die Wut.
Der Kioskverkäufer warf bereits wütende Blicke zu dem Tisch den ich damit besetzte, und dem unangerührten Kaffee der warm in meiner Hand ruhte. Mir kam der Gedanke, dass der rundliche Mann mittleren Alters mich wirklich verachten musste.
Mittlerweile sollte mein Gesicht ihm bekannt sein.
Ich warf ihm ein entschuldigendes Lächeln zu, seinen Blick durchaus registrierend. Die ganze Zeit über.
Als ich plötzlich tatsächlich Adriens Kopf vorbeischlendern sah – natürlich auf dem dazugehörigen Körper und in dem dunklen Mantel, den er immer trug – hatte ich es im Grunde schon aufgegeben, hier auf ihn zu warten.
Ich starrte ihm nach.
Fassungslos und ohne mich zu regen.
Und sah zu, wie er sich tatsächlich umdrehte und wirklich zum Kiosk schlenderte. Sich einen Kaffee kaufen wollte, wie so oft. Ich lächelte.
Und er sah mich.
Sah mich lange.
Mit diesen wundervollen Hundeaugen.
Die sich langsam von mir abwendeten und Anstalten machten, wieder in der Menge zu verschwinden. Einen kurzen Moment lang war ich der Meinung ein Lächeln auf seinen Lippen gesehen zu haben, und war mir nicht sicher, ob es tatsächlich mir gegolten hatte.
Dafür war ich mir sicher, dass ich ihn nicht wieder gehen lassen würde. Ich sprang von meinem Hocker auf und warf ihn dabei ungeschickterweise auch noch um. Sprintete dem Taschendieb hinterher, wie einem lange gesuchten Mörder.
Adrien, der wohl ähnlich dachte, schien einen kurzen Moment zu überlegen weg zu laufen, nachdem er mich aus erschrockenen Augen gemustert hatte.
Aber meine Eile war unnötig gewesen, er drehte sich zu spät um und ließ mir genug Zeit, ihn am Arm zu packen und schwer atmend fest zu halten.
Es dauerte mehrere Sekunden bis ich mich von der seltsamen Überraschung erholt hatte, von dem kurzen, abrupten Sprint nach der beinahe schlaflosen Nacht. Wuschelhaare und Hundeblick machten beinahe alles wieder gut. Ich schaffte es sogar, noch einmal zu lächeln.
Hatte das Gefühl, ihn ewig nicht mehr gesehen zu haben. Und dann die Ahnung, dass es gar nicht so lange her sein konnte.
Adrien jedenfalls wartete darauf, dass ich etwas sagte. Denn ich sagte ja nichts, sondern hielt ihn einfach nur ziemlich grob am Arm fest, damit er nicht wieder wegrannte.
Und sagte einfach nur: „Warte“.
Viel zu spät.
Ließ ihn dann los.
Adrien wartete brav, misstrauisch, und fühlte sich ganz offensichtlich ziemlich unwohl in meiner Gesellschaft.
Was mich erneut dermaßen verletzte, dass ich auf meiner Unterlippe zu kauen begann und ihn beleidigt ansah.
„Rennen sie nicht weg vor mir! Ich habe ihnen doch gesagt, dass ich sie nicht verraten würde, das…du…sie….das war furchtbar gemein.“
In all der Aufregung war ich den Tränen nahe. Die Worte, die ich mir zu Recht gelegt hatte, sprudelten in verkehrter Reihenfolge aus mir heraus und schienen überhaupt keinen Sinn mehr zu machen.
Hatten noch nie Sinn ergeben.
„Sie haben mich unter Druck gesetzt“, beschuldigte er mich. Wich meinem Blick aus. Ich schürzte beleidigt die Lippen.
Dachte nach.
Fand nicht die richtigen Worte.
„Was kann ich tun, damit sie mir wieder vertrauen?“
In diesem kurzen Moment tat sich wieder die beklemmende Frage auf, scheinbar für mich UND ihn, wieso ich sein Vertrauen denn überhaupt wollte.
Ich wusste es nicht und wollte es auch gar nicht wissen. Wollte nur eine Antwort.
Und ein Lächeln.
„Sollten sie mich als Polizistin nicht eigentlich in Ruhe lassen?“
Ernst klang es nicht.
„Tu ich aber nicht. Das können sie vergessen, sie werden mich nicht los.“
Es brachte nicht nur ihn kurz zum stutzen. Ich strich mir das Haar zurück. Ließ den Blick zur Erde schweifen und starrte seine durchgetretenen Schuhe an. Viel Geld schien er ja wirklich nicht zu haben. Die Jeans hatte ich schon etliche Male an ihm gesehen. Und sie war doch etwas ausgebleicht. Nicht gerade penibel sauber.
Ich konnte mir bei näherer Überlegung auch nicht vorstellen, dass sein Arbeitsgeber ihm sonderlich viel bezahlte.
Er seufzte.
„Lui. Was wollen sie denn noch von mir? Wenn sie mich nicht festnehmen wollen, dann…“
„Wir gehen essen!“, schlug ich vor. Eilig, sodass er den Satz, den ich nicht hören wollte, gar nicht beenden konnte.
„Ich lade sie zum Essen ein.“
Ich fand, dass er plötzlich wieder ziemlich vertrauensvoll aussah. Neugierig fragte: „Wo?“
Plötzlich hatte ich die Ahnung, dass mich das einiges Kosten würde. Ich musste mich daran erinnern, dass Geld jetzt keine Rolle spielen sollte. Die Überzeugung war einfach zu erlangen. Ein Blick reichte. Immerhin ging es um Adrien, der scheinbar ziemlich leicht zurück zu kaufen war. Mit Essen.
Ich musste schmunzeln.
„Sie dürfen sich etwas aussuchen.“
Adrien war sichtlich misstrauisch, und gleichermaßen tatsächlich begeistert von dem Gedanken.
„Ganz egal was?“
Ein lauwarmer Wind wehte durch die Metrostation.
Ich nickte gequält.
„Ja, egal.“
„Auch im (Reiches Viertel an der Seine einfügen)?“
Jetzt grinste er wirklich schief und ich war auch wirklich erleichtert darüber. Ließ mir den Namen des Viertels, in dem es nur die nobelsten und teuersten Restaurants hatte, erneut durch den Kopf gehen und seufzte schwer, in Gedanken bei meiner Brieftasche. Dann stimmte ich trotzdem zu.
Ich musste mit einem Mal wirklich leicht auszunutzen sein.
Der Taschendieb schaffte es, meine bisher so geordnete Welt durcheinander zu bringen. Und machte sie dabei so kompliziert, dass ich hätte wütend sein müssen.
Sonst würde ich so etwas doch nicht machen!
Eigentlich. Mit ihm war es nicht wie „sonst“.
„Ich habe aber nichts Passendes zum anziehen“, stellte er dann immer noch lächelnd fest. Senkte den wuscheligen Kopf. Ich hatte Lust, ihm über die Haare zu streichen. Mühsam behielt ich meine Konzentration. Folgte seinem Blick zu dem Mantel und der alten Jeans. Den Schuhen. Die wirklich nicht sehr elegant wirkten.
„Dann wirst du einen Anzug brauchen“, stellte ich fest.
Der Gedanke ihn mit Krawatte und Anzug zu sehen, war gar nicht mal so uninteressant.
Sein Hundeblick war triumphierend. Unschuldig breitete er die Arme aus. „Ich hab kein Geld.“
„Du kannst einen von meinem Vater haben“, gab ich nüchtern zurück. Ich schnappte mir sein Handgelenk und zog ihn aus der Metrostation. Und er blieb stehen. Abrupt.
„A…also erstens gehe ich nicht noch mal in deine Wohnung! Und zweitens muss ich jetzt doch arbeiten. Wir sollten ohnehin gegen Abend gehen.“
Da gab ich ihm Recht. Und fragte, wann er dann fertig wäre. Er sagte es mir. Erntete meinen skeptischen Blick.
„Kannst du nicht früher kommen?“
Er verneinte entschieden. „Nein! Der Bibliothekar lässt mich nicht früher gehen.“
Da klang er Recht überzeugt.
„Ich rede mit ihm.“
„Das hast du auch letztes Mal gesagt.“
Tatsächlich hatte ich das letzte Mal nicht mit ihm gesprochen. Nach Adriens überstürztem Aufbruch hatte ich keine Gelegenheit gesehen, ohne nicht auch ihm über den Weg zu laufen, der mich ohnehin entschieden gemieden hätte.
Ich kniff die Lippen zu einer strengen Linie zusammen.
„Dieses Mal rede ich aber mit ihm. Jetzt gleich. Und dann hole ich dich heute Abend um halb Sechs einfach ab.“
Wirklich überzeugt sah er nicht aus. Dennoch gab er – nachdem ich länger auf ihn eingeredet hatte – letztendlich willig nach und wir machten uns gemeinsam auf den Weg zur Bibliothek. Ich versuchte beiläufig herauszufinden, wieso er sich keine Freitage nehmen konnte. Adrien allerdings ließ nicht wirklich etwas verlauten, redete geschickt um meine Fragen herum, und auch wenn mir das schnell auffiel ging ich nicht weiter darauf ein.
Sollte er eben.
Hauptsache, er war da.
Die Bibliothek begrüßte uns mit ihrem gemütlichen, staubigen Geruch und dem Rascheln der Seiten, dass ich während meinen Besuchen recht lieb gewonnen hatte.
Adrien hatte es mit einem mal recht eilig zum Tresen der Bibliothek zu eilen. Seinen Mantel hing er an einen Haken neben einem Regal hinter dem Informationsstand und sah wieder durch und durch wie der gewöhnliche Franzose aus.
Ich betrachtete ihn so eine Weile und lauschte auf das Gezeter des Bibliothekars, der wild gestikulierte und sich mehrmals beschwerte, wie spät Adrien gekommen war, der sich halbherzig entschuldigte und umso schneller an die Arbeit machte.
Nicht, ohne mir noch einen zerknirschten Blick zuzuwerfen, den ich mit einem geduldigen Lächeln erwiderte.
Dann wandte ich mit dem alten Mann am Tresen zu. Beugte mich über die Holzfläche weiter zu ihm.
Zuckersüß lächelnd. Eigentlich war es gar nicht so verschwörerisch gemeint gewesen, wie es wohl geklungen haben musste, als ich unschuldig fragte, ob Adrien nicht ausnahmsweise früher gehen könne.
Der Alte machte Anstalten es zu verneinen. Ich kam ihm zuvor. Warf mein Haar ungeduldig zurück.
„Gibt es da nicht eigentlich eine Regelung, wie viele Freitage ein Arbeiter mindestens haben muss? Ich sehe ihn jeden Tag hier her kommen. Ausnahmslos.. Die ganze Woche.“
Ich funkelte ihn aus blauen Augen angriffslustig an.
Er fragte ungeduldig nach meinem Namen, und als ich es ihm sagte, wurden die Schlangenhaften Augen des Mannes ein wenig größer.
„Mademoiselle Petit?“
„Luise Petit.“, stimmte ich ihm zu. Ganz arglos.
Das er mich kannte, was nicht verwunderlich war wenn man Zeitung las und sich ein wenig mit der Polizei beschäftigte, ließ mich erneut misstrauisch darüber nachdenken, wie es kam, dass Adrien als Taschendieb scheinbar nichts von mir gewusst hatte.
„Die Tochter des Inspektors Petit?“
Ich nickte nur. Betonte, dass die Arbeitsverhältnisse hier wirklich seltsam waren. Eine Frauenstimme weiter hinten in der Bibliothek schrie nach Adi.
Dann hatte ich die Erlaubnis. Beziehungsweise Adrien hatte sie. Ich lehnte mich neben ihm triumphierend und mit einem breiten Grinsen an ein Bücherregal und meinte nur: „Um halb Sechs.“
Er sah mich doch recht verblüfft an. Dann misstrauisch. Nickte aber.
„Wie haben sie das gemacht?“
„Ihn überzeugt?“
„Ja.“
„Ich musste eigentlich nur meinen Namen sagen.“
Ja, das hatte überraschend gut funktioniert. In dieser Bibliothek schien es mit den Regeln zu Arbeitnehmern wirklich nicht ganz legal zu laufen.
Oh, eigentlich war ich davon sogar überzeugt.
Wäre Adrien nicht hier gewesen…hätte ich es vielleicht sogar gemeldet.
Dass ich es nicht vorhatte konnte sein Arbeitsgeber ja nicht wissen.
Adrien schien noch misstrauischer. Ich dagegen war zufrieden, und bevor ich ging fuhr ich ihm doch kurz mit der Hand durchs Haar.
Weich und wuschelig! Eigentlich fühlte es sich genauso an, wie es aussah.
Ich lachte.
Und sang vor mich hin als ich die Bibliothek verließ.

Ja, ich hatte meinen Vater schon früh bei einigen Fällen unterstützt. Leichtsinnig und engagiert wie ich war, war ich häufig auf dem Revier. Die Polizisten kannten mich schon seit Jahren, und ich kannte die Polizisten.
Ich war ein Teil des Reviers noch bevor ich wirklich in Betracht gezogen hatte, dort je zu arbeiten. Und mein Vater war stolz auf mich, und gleichzeitig besorgt, als ich verkündete, dass ich Polizistin werden würde. Und so gerecht und erfolgreich wie er.
Ja, ich hatte vor in seine Fußstapfen zu treten, als ein harter, aber gerechter Mensch. Ich half, am Computer Informationen zu sammeln und sah mir die Überwachungsbänder an. Erst zusammen mit meinem Vater. Und als sie erkannten, dass meine Auffassungsgabe in solchen Dingen nicht allzu schlecht war, ließ man mich allein daran arbeiten.
Wenn mein Vater in der Zeitung von einem Fall berichtete, berichtete er auch stolz von mir.
Luise Petit.
Seiner Tochter, die genauso erfolgreich werden würde, wie er. Und eine wunderbare Polizistin abgeben würde. Eines Tages. Wenn sie dann alt genug war.
Und was diese Tochter tat, war ihrem Vater einen Taschendieb als einen neuen Freund vorzustellen.
Ich hatte ein schlechtes Gewissen.
Ein wenig.
Dass er ein Dieb war hatte ich meinem Vater natürlich verschwiegen. Am Telefon, zwei Tage nachdem Adrien aus meiner Wohnung geflüchtet war.
Jetzt war ich wieder auf dem Weg zum Revier und dachte an den Abend, der mir bevorstand.
Dachte daran, dass ich Adrien wieder sehen würde.
Ihn nicht ganz verlieren würde.
Und war zu meinem eigenen Erschrecken ungemein glücklich darüber.
Das Radio lief laut als ich vor dem Revier hielt.
Moi, je t’aimerai.
Noch bevor ich die Türen zum Präsidium öffnen konnte, stürmte mir Jaqueline entgegen und fiel mir regelrecht um den Hals. Umklammerte mich schluchzend.
„Lui!“
Ich hielt sie fest und konnte nicht anders als zu lächeln, denn obwohl Tony gewesen war, und noch irgendwo herumlief, war jetzt alles wieder gut.
Jaqueline war unverletzt.
Und wieder auf den Beinen.
Vor Allem aber war Adrien wieder da.
Während sie mit ihren Tränen meine Jeansjacke befeuchtete konnte ich nur Lachen.
Dann erzählte ich ihr von Adrien und aus dem Weinen wurde beinahe augenblicklich ein strahlendes Lächeln. Sie hielt mich von sich weg.
Grinste übers ganze Gesicht.
Mir schwante böses.
„Das heißt, ihr habt ein Rendezvous!“
Warum hatte ich es ihr überhaupt erzählt? Ich verzog das Gesicht. „Er ist ein Freund. Nur ein Freund.“
Und in dem Moment öffnete mein Vater leichenblass die Tür und starrte uns beide an.
„Was ist mit einem Rendezvous?“
Ich hatte erwähnt, dass er überfürsorglich sein konnte? Jaqueline erzählte ihm also begeistert von Adrien, beschrieb sein Haar und seine Augen und seine Stimme, seine tollpatschige Art, und zu meiner endlosen Erleichterung redete sie nicht davon, was für ein begabter Taschendieb er war. Auch wenn ich wusste, dass genau das sie am meisten ins Schwärmen versetzte.
Mein Vater verlor derweil den Rest der Farbe im Gesicht und schluckte mehrmals, mit der Miene die ein Vater hatte, wenn die Tochter ganz plötzlich erwachsen wurde.
Nun, ich hatte ihm noch nie einen Freund vorgestellt.
Und mein Vater hatte mir mehrmals zugesprochen, dass das Zeit hatte.
Viel Zeit.
Man musste erst heiraten, wenn man dreißig war, und die Liebe war nicht so toll, wie alle sagten.
Das waren die sturen Worte meines Vaters, der wie jeder Vater nicht gern über seine Gefühle sprach, und deswegen nicht ausdrücken konnte wie sehr es ihn noch schmerzte dass seine eigene Liebe so plötzlich verloren gegangen war.
Vor Allem aber fürchtete er sich vor meiner Entscheidung und davor, ich könnte samt einem Freund auf eine falsche Bahn abrutschen.
Das tat ich tatsächlich auch ohne die Liebe.
Wegen Adrien.
Aber Jaqueline schilderte es anders und so überzeugt, dass ich meinem Vater nur schwer versichern konnte, dass es sich nur um einen Freund handelte.
„Der, von dem ich dir erzählt habe“, erklärte ich meinem Vater. Jaquelines Rehaugen sahen mich irritiert an. „Du hast…ihm von Adrien erzählt?“
„Ja.“
„Weiß der das schon?“
Ich lächelte. Unsicher.
„Ich erzähle es ihm heute Abend.“
Ja, das würde ich wohl. Und ich war gespannt, wie er reagieren würde. Vermutlich rannte er gleich wieder weg. Wunderbar. Ich würde mich bemühen ihn zu überzeugen, dass ich ihn nur als Freund beschrieben hatte. Nicht als Verbrecher.
„Ah ja, dein neuer Freund“, wiederholte mein Vater brummend. Er wirkte nicht gerade zufrieden gestimmt. Aber Rücksicht konnte ich nicht weiter nehmen. „Wie war noch gleich sein Nachname?“
Sowohl Jaqueline als auch ich schwiegen ahnungslos.
Adriens Nachname? Ich hatte nie darüber nachgedacht, aber jetzt, wo mein Vater es angesprochen hatte, stellte ich mir schon die Frage nach seinem ganzen Namen.
Vor Allem aber tat sich die Frage auf, was ich meinem Vater erzählen sollte.
Der wartete. Immer noch. Und wurde ungeduldig. Vielleicht hätten wir auch einfach sagen sollen, dass wir es nicht wussten. Jaqueline und ich.
Aber Jaqueline, die mich gut kannte, fürchtete mit mir zusammen das mein Vater sich dann wohl fragen würde, wieso seine Tochter den Namen eines neuen guten Freundes nicht einmal wusste.
Adrien war eben Adrien.
Und nichts anderes.
Ich machte den Mund auf, um zu gestehen dass ich mir nicht mehr sicher wäre, da rettete mich Pierre indem er die Tür aufstieß und uns hinein bat.
Pierre hatte sich die Gasse nahe der Disco noch einmal angesehen und auch den Besitzer des Landens nach Tony gefragt.
An Informationen war dabei nicht allzu viel heraus gekommen. Er war oft in der Disco und dabei auch oft in weiblicher Gesellschaft wenn er die Disco wieder verließ. Meistens saß er eher an der Bar und trank etwas, als dass er mitten in der Masse tanzte.
Das war es, was wir über Tony erfuhren, der nicht mehr in dem Kino arbeitete, in dem Jaqueline ihn kenne gelernt hatte. Denn das hatten wir bereits überprüft.
Pierre tröstete mich damit, dass nur noch wenige Antworten fehlten bis sie seinen Aufenthaltsort fest machen konnten, und versicherte mir, dass sie ihn bald festnehmen würden.
Mich beruhigte das wenig. Ich würde diese Wut sicher nicht vergessen bis der Kerl hinter Gittern saß. Da, wo er hingehörte.
Ich ballte wütend die Fäuste. Wenn dieser Typ jemals geschnappt werden würde, ich würde…
Was?
Rein juristisch gesehen wäre es nicht unbedingt gut für meine Karriere zu aggressiv auf einen Verbrecher zu reagieren.
Ich schob die Gedanken beiseite.
Ich verbrachte den Mittag im Revier. Erkundigte mich mehrmals nach Jaquelines Befinden und erzählte ihr wieder und wieder worüber wir geredet hatten. Ich und Adrien.
Von dem Bibliothekar, der Bücherei, der seltsamen Arbeit.
Wir saßen tuschelnd zusammen auf dem alten Ledersofa. In solchen Moment fühlte ich mich eher wie ein Kind als wie eine erwachsene Frau, aber es tat gut, Jaqueline neben mir zu wissen.
Ich sagte ihr sogar, dass Adriens Haare weich und wuschelig waren, was eigentlich offensichtlich war, und begegnete nüchtern ihrem langen, funkelnden Blick, der ihre Gedanken nur allzu deutlich machte.
Ich verzog das Gesicht.
Irgendwann machte meine blonde Cousine mich dann darauf aufmerksam, dass Pierre mich von einem Tisch hinten in der Cafeteria schon die ganze Zeit über beobachtete, und ich beendete das Gespräch.
Auch als ich das Präsidium verlassen wollte, lagen die grünen Augen des Polizisten auf mir, und schließlich bot er an, mich mit dem Streifenwagen mitzunehmen damit ich mein Auto holen konnte.
Auch wenn ich gerne Adriens Gesicht gesehen hätte, wenn ich ihm mitgeteilt hätte, dass er im Wagen des Polizeiinspektors saß, nahm ich das Angebot dann dankend an. Pierre fragte im Wagen noch einmal vorsichtig, ob alles mit mir in Ordnung sei, und ich konnte es lächelnd bejahen. Dann schwieg er wieder. Irgendwie verlegen. Und setzte mich wie versprochen bei meinem Auto ab, dass noch vor der Disco stand.

Ich verbrachte eine ganze Weile damit, tatenlos in einem Café am Ufer der Seine zu sitzen und nach zu denken. Ich hatte noch eine gute Stunde bis ich mich auch nur auf den Weg machen musste, um Adrien abzuholen.
Zu meinem eigenen Verdruss ließ ich mir Jaquelines Worte durch den Kopf gehen. Ein Rendezvous. Nein, das war vollkommen abwegig, allein schon deswegen, weil ich Adrien nur dazu überreden konnte indem ich ihn in ein teures Restaurant lockte.
Man konnte wirklich meinen er benähme sich wie ein Hund, der nicht allzu schwer abzurichten war. Und vertrauensselig.
Oder war ich diejenige, die naiv handelte?
Adrien hatte doch unmöglich nicht von mir wissen können. Und in meiner Wohnung hatte seine Hand zwar gezittert, aber sonst war er mir recht ruhig erschienen.
Ich war verwirrt.
Und wollte es nicht sein.
Allein deswegen schob ich alle Zweifel beiseite und sagte mir, dass es ohnehin unwichtig wäre.
Dass ich diesem Taschendieb nicht ewig nachlaufen konnte. Und es nicht wollte.
Ich rief den Kellner herbei und bezahlte den Tee und den Zucker, den ich aufgebraucht hatte.
Dann brach ich auf.
Zu viel Zucker im Tee schmeckte seltsam.
Im Grunde sogar wirklich widerlich.

Ich holte Adrien wie versprochen um Punkt halb Sechs in der Bibliothek ab und ignorierte den mürrischen Blick des alten Bibliothekars.
Sobald Adrien sich den Trenchcoat übergezogen hatte und mir nach draußen folgte, sah er aus wie immer.
Zerwuschelt.
Wie ein streunender Hund.
Ganz liebenswürdig.
Nach scheinbarer Skepsis setzte er sich dann doch wieder ganz vertrauensvoll auf den Beifahrersitz meines Autos. Ja, entweder war ich schrecklich naiv, oder aber er war ein unglaublich unvorsichtiger Taschendieb. Ich hielt ihm das auch vor.
Sperrte als auch ich saß das Auto zu und fuhr los.
Adrien starrte auf die verschlossenen Wagentüren.
„Wofür war das?“
Es klang panisch. Ich verdrehte die Augen und sperrte wieder auf.
„Nur ein Scherz.“
„ich habe Platzangst“, teilte er mir anschuldigend mit. Schulterzuckend trat ich aufs Gaspedal fest und er klammerte sich gerade rechtzeitig fest um in der Kurve nicht zur Seite gegen die Tür geworfen zu werden.
Ich musterte ihn auf gerader Straße aus den Augenwinkeln. Von der Wunde an seiner Stirn war nicht viel mehr zurück geblieben als eine kleine, rosa Narbe die vielleicht nicht mehr verschwinden würde. Vielleicht.
Als wir in das Viertel kamen in dem ich lebte, schien er dann noch einmal sichtlich nervös zu werden.
Ich versicherte ihm, dass ich zwei Straßen entfernt von meinem Haus parken würde, und er dann nur zu warten brauchte. Ich sagte es mit einem Seufzen.
Und rechnete es ihm an, dass er zumindest ein wenig vorsichtig war, auch wenn es mir selbst schmerzte.
Tatsächlich parkte ich weit genug von meinem Haus entfernt.
Nachdem Adrien die erste Hälfte der Fahrt erneut auf den Knöpfen meines Autos herum gedrückt hatte, hatte er das Radio ausgeschalten.
Die Scheibe war frisch geputzt nachdem sie ein Paar Mal beschlagen war, und wir hatten einen seltsamen Temperaturwechsel im Auto durchlebt, nachdem er abwechselnd die Heizung und die Klimaanlage ganz aufgedreht hatte.
Es war also still im Wagen und ich verweilte mit den Händen auf dem Lenkrad und den Blick nach vorn gerichtet. Minutenlang.
„Lui?“
Dann warf ich ihm ein Lächeln zu. Gestand.
„Ich habe meinem Vater von dir erzählt.“
Noch bevor ich es kurz machen konnte, und ihm versichern konnte, das alles in Ordnung war, hatte er ein erschrockenes „Du hast WAS?“, gerufen. Mit einer Stimme die um einiges höher gesprungen war als normal. Und dabei hatte er „Du“ gesagt. Ich hätte gelächelt, hätte er nicht so erschrocken drein geschaut.
Rechtzeitig bevor er das Auto verlassen konnte sperrte ich ab. Ziemlich hektisch.
„Jetzt schau mich nicht so an!“
An seinem Blick änderte sich nichts.
„Lui…du hattest es versprochen!“
„Ja, genau.“
Es kränkte mich ein wenig, dass er mir wirklich SO wenig glaubte. Der Hundeblick brach mir beinahe das Herz. Für einen Taschendieb hatte er wirklich eine vertrauenswürdige Art, die mich eigentlich hätte warnen sollen.
„Warum hast du das dann gemacht?“
„Lass mich doch erst Mal zu Ende reden.“
Seine schnelle Resignation stand im Gegensatz zu meiner Ruhe. Ich trommelte auf dem Lenkrad. Sah den Wagen, der vor mir geparkt hatte an. Blau war er. Ein Citroen.
Adrien wartete scheinbar ungeduldig auf meine Entschuldigung. Ich schmollte.
„Ich hab ihn angerufen nachdem du geflüchtet bist.“
„Und?“
„Lass mich doch ausreden, ich habe gesagt ich hätte dich am Kiosk kennen gelernt und dass wir Freunde wären.“
„Und?“
Musste das denn sein? Er sah noch immer ziemlich beleidigt aus.
„Und dass ich dich ihm gerne vorstellen würde.“
„Aber das machst du nicht.“
Ich grinste.
„Mal sehen.“
„Und?“
Langsam wurde es wirklich nervig. Ich warf ihm einen genervten Blick zu. „Nichts und.“
„Du hast ihm nicht gesagt, dass…..“
„Du ein verdammter Taschendieb bist?“
„Zauberer.“
„Nein, hab ich nicht.“
Beinahe verwirrt sah er mich an.
Die Autos fuhren an uns vorbei. Ganz gewöhnlich. Wie jeden Tag. Adriens Hand tastete nach dem Griff der verschlossenen Tür.
„Oh.“
„Ja.“
Er fiel beinahe aus dem Auto als ich aufsperrte und selbst ausstieg. Ihm sagte, dass er warten solle, wenn er schon nicht mitkommen wollte.
Und das tat er dann auch.
Blieb im Auto.
Ich nahm den Schlüssel mit und sperrte einfach zu während ich wegging. Ohne zurück zu schauen, vermutlich hätte ich dann doch wieder aufgesperrt.
Und wenn er tatsächlich Platzangst hatte, dann wäre das nun meine Rache dafür, dass er mir zutraute mein Versprechen zu brechen.
Dieser verdammte Dieb.
Seinen Ruf hörte ich jedenfalls nicht mehr.
Ich ließ mir Zeit damit zu meinem Haus zu schlendern, wechselte sogar ein Paar Worte mit meiner Nachbarin, die nur herauskam, um eben jene Worte mit mir zu wechseln, und dann wieder zurück in ihre Wohnung schlürfte.
Mittlerweile war Viertel Sieben. Fred und Sam begrüßten mich freudig und freuten sich sogar noch mehr als ihnen ihr Abendessen hinstellte und vor ihnen über den Dieb in meinem Auto fluchte, während ich mit einer Begeisterung die ich niemals zugegeben hätte einen älteren Anzug meines Vaters für ihn heraussuchte.
Mein Vater und ich waren nach dem Tod meiner Mutter hier in die Wohnung gezogen.
Wir hatten damals beide beschlossen, neu anzufangen. Von vorne.
Die Wohnung und die Verteilung der Zimmer war eigentlich schon immer für eine, vielleicht zwei Personen ausgerichtet gewesen. In meinem Schlafzimmer stand ein großes Bett, in dem im Grunde zwei problemlos Platz hatten.
Damals hatte ich mit Begeisterung auf dem alten Schlafsofa geschlafen, mitten im Wohnzimmer, später dann immer wieder zusammen mit Jaqueline. Ab und am schlief ich bei meinem Vater im bett.
Jaqueline meinte, dass eine Teenagerin ihr eigenes Zimmer brauche.
Ich war anderer Meinung.
Statt meinem Zimmer tapezierte ich damals die Küchen und Wohnzimmerwand mit Postern von berühmten Boxern voll, ab und an auch einer der Metall-Sänger.
Ja, ich war nie das gewöhnliche junge Mädchen gewesen.
Und immerhin war die Wohnung recht klein und ich hatte meinem Vater keine Probleme bereiten wollen.
Als dieser dann später vorschlug, näher ans Revier zu ziehen, in dem er immer öfter gebraucht wurde, einigten wir uns darauf dass ich mit meinen siebzehn Jahren alt genug wäre, allein in der Wohnung zu bleiben – eigentlich bestand ich sogar darauf hier zu bleiben, an dem Ort, an dem ich mittlerweile Erinnerungen geschaffen hatte – und mein Vater zog weiter in die Innenstadt.
Daher jedenfalls befanden sich seine alten ungebrauchten Anzüge jedenfalls noch in meinem Kleiderschrank, der eine ganz stolze Größe hatte, und hingen da einsam und völlig nutzlos vor sich hin.
Ich stand eine Weile vor dem Schrank und wählte für Adrien dann einen schlichten schwarzen Anzug mit Krawatte und einem weißen Hemd dazu. Vergebens versuchte ich mir bei den Kleidungsstücken, ihn mir darin vorzustellen, und so hatte es gar keinen Zweck danach zu gehen, was ihm stehen würde.
Nachdem ich das also so weit gebracht hatte, und mir auch lange genug den Kopf darüber zerbrochen hatte, ob die Kleider passen würden, suchte ich mir selbst noch ein Kleid und zog mich noch in der Wohnung um.
Es war ein blassgoldenes, schulterfreies Kleid mit dazu passendem Schal und dezent lang geschnitten. Halbwegs angenehm zu tragen.
Ich dachte erneut daran, das Adrien im Auto wartete und hätte mich beinahe zur Eile treiben lassen. Schließlich entschied ich mich, dass er ruhig warten konnte. Bürstete vor dem Spiegel im Flur mein Haar und schminkte mich.
Weil es mir Freude bereitete, die Veränderung zu beobachten.
Letztendlich betrachtete ich mich in dem eleganten Kleid, mit den sicherlich ebenso eleganten Haaren stolz im Spiegel und fand, dass ich nicht mehr wirklich aussah, wie davor.
Vor Allem aber redete ich mir ein dass es rein gar nichts mit Adrien zu tun hatte. Auch nicht, dass das Kleid zu seiner Krawatte passte.
Ganz besonders das nicht.
Ich stopfte den Elektroschocker in meine Handtasche und kehrte dann erst langsam zum Auto zurück. Madame Poiris lobte mein Auftreten im Flur und fragte nach meinem Freund.
Ich brauchte eine Weile um zu verstehen, dass sie von Adrien sprach.
Nüchtern erklärte ich ihr, dass er im Auto schon eine ganze Weile wartete, und ich deshalb schnell zu ihm musste, und sie wünschte mir viel Freude und Erfolg, von dem ich nicht wusste, wofür ich ihn brauchen sollte.
Adrien erwartete mich dann zu meiner eigenen Überraschung und meinem Amüsement vor dem Auto, statt innen, und sah mich ziemlich anschuldigend an. Mürrisch.
Ich grinste nur beeindruckt. Drückte ihm die Kleider in die Hand, die er ausgiebig musterte.
Erst den Anzug, und dann mich.
„Wow.“, meinte er, mit undeutbarer Miene. Ich verzog das Gesicht. War mir nicht einmal sicher, ob er den Anzug meinte, oder mein Kleid. Sah kurz an mir herunter.
„Wow?“
„Sieht…“ Er suchte nach Worten. Ich biss mir auf die Unterlippe. „Anders aus.“
Irgendwie schaffte ich es, das als Kompliment zu sehen. „Äh….danke.“
Und stieg vor ihm ins Auto.
Die Tür, die er wohl irgendwie aufgekriegt hatte, ließ sich zu meiner Zufriedenheit noch auf und zu sperren.
Also warf ihm nur einen anerkennenden Blick zu und zweifelte schon wieder einige Minuten der Fahrt, wie jemand wie er so tollpatschig sein konnte.
Und so unvorsichtig.
So unwissend.
Es machte keinen Sinn.
Aber Adrien….war Adrien, richtig?
Wir parkten nahe der Metrostation, sodass Adrien sich in der Herrentoilette umziehen konnte.
Ich wartete draußen vor der Tür und musterte die vorbeiziehenden Menschen, wie ich es schon oft getan hatte. Und wie schon oft beobachtete ich ein streitendes Paar, das sich noch an der Hand gehalten hatte als sie aus der einfahrenden Metro gestiegen waren. Und dann nicht mehr.
Sie sah weg, er in die andere Richtung. Beide wechselten in all dem Lärm ein paar leise Worte.
Dann ging das Mädchen.
Der junge Mann trat eine Mülltonne um und verschwand in die andere Richtung. Wieder die andere. Nicht ihr hinterher.
Ich ertappte mich plötzlich dabei zu denken, dass er ihr nachgehen sollte.
Sie zurück holen sollte.
Das so etwas doch nicht einfach so enden konnte. Nicht so plötzlich. Dass sie sich irgendwie wieder zusammen raffen sollten, weil es wehtun musste, voneinander getrennt zu sein. Weil es weh tat zu denken, dass ein Mensch, den man mochte, einem selbst mit Verachtung entgegen trat, wo man bisher noch so etwas wie Zuneigung gesehen hatte.
Ich kaute immer noch mit bekümmertem Blick auf meiner Unterlippe als Adrien plötzlich wieder neben mir stand und mich, die nicht so recht reagierte, mehrere Sekunden ansah. Meinen Namen aussprach.
Ich wandte ihm langsam den Blick zu und war begeistert.
„Wow.“
Im Gegensatz zu mir zuvor sah er das gleich als Kompliment. Ich fügte lächelnd hinzu „Steht ihnen“ und zauberte dann einen Kamm und Haarspray aus meiner Handtasche.
Scheinbar hatte er bereits versucht sein Haar mit etwas Wasser in Ordnung zu bringen.
Zerwuschelt sah es immer noch aus. Vielleicht nicht mehr so sehr. Ich kämmten ihm die letzten Locken nach oben aus dem Gesicht und ließ ihn dann in einer stark duftenden Wolke aus Haarspray verschwinden. Trat dann zurück um ihn zu betrachten.
Es stand ihm tatsächlich gut.
Brachte einen ganzen, plötzlichen Wandel seiner Gestalt. Eigentlich sah er gar nicht mehr tollpatschig aus. Und auch nicht so zerzaust.
Eher wie ein Gentleman.
Mit dem schiefen Lächeln, das in diesen Kleidern eher charmant war als das lockere Grinsen von zuvor.
Ich merkte, dass ich immer noch grinste. Und ihn anstarrte.
Auf einmal hatte ich es eilig ihn weg zu ziehen und zum Auto zurück zu kehren. Jaqueline hätte es damit begründet, dass ich anscheinend nicht wollte, das andere ihn sahen. Aber das war natürlich Blödsinn.
Da ich mittlerweile halb vergessen hatte, dass der Abend komplett auf meine Kosten ging, hatte ich ungetrübt gute Laune. Ja, ich vergaß im Auto sogar meine Sorgen die Tony betrafen.
Ich begann sogar wieder zu singen.
Leise und für mich, aber Adrien hörte es natürlich trotzdem. Was ich sang, konnte ich später nicht mehr sagen. Im Dämmerlicht der Stadt betrachtete Adrien zum ersten Mal an diesem Tag meine nackten Arme und kam dazu zu fragen, was passiert war.
Ich folgte seinem Blick.
Mein Hals und meine Arme waren noch immer übersät von kleinen roten und blauen Flecken die allesamt schmerzten. Ich hatte versucht nicht daran zu denken. Und dabei vergessen die schmerzenden Stellen abzudecken.
„Ein Paar Grobiane in einer Disco haben Jaqueline belästigt. Da bin ich dazwischen gegangen.“
Er starrte mich einen Moment lang an.
„Sie sind…dazwischen gegangen?“
„ja.“
„War es denn nur einer? Oder zwei?“
Ziemlich skeptisch sah er aus. In meinen Mundwinkeln zuckte es bedrohlich.
„Es waren fünf, und wäre die Polizei nicht gekommen, hätte ich vermutlich auch Pech gehabt.“
Den geheimnisvollen Retter, der sich ja nicht zeigte und bei dem ich mich deshalb ohnehin nicht hätte revanchieren können, verschwieg ich.
Davon musste ich Adrien ja nicht erzählen.
Schon gar nicht weil langsam alle schattenhaften Gestalten die ich nicht erkannte wie Tony oder er aussahen. Nein, das musste er nicht wissen.
„Pech gehabt?“
Seine Stimme riss mich ziemlich unsanft aus meinen Gedanken. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich derartig zurechtweisen würde. Missmutig drückte ich aufs Gaspedal, was ihn nicht vom Reden abhielt.
„Sie sollten so etwas lassen. Fünf! Es kann nicht immer jemand zu Hilfe kommen, sie sind immer noch eine Frau und…“
„Und was? Ich kann mich auch als Frau ganz gut verteidigen. Ich bin kein Kind mehr!“
Das jemand mich behandelte wie ein kleines Mädchen hatte ich satt. Ja, ich hatte verloren. Und gerade noch Glück gehabt. Aber was wusste er schon davon?
„Oh ja, das hat man gemerkt“, gab er bissig zurück und deutete auf meine Arme. Ich riss das Lenkrad in der Kurve herum und schaffte es dieses Mal wirklich ihn damit gegen die Tür zu schleudern.
„Lui!“
Ich unterdrückte Tränen der Wut.
Verloren.
Ich hatte gegen diesen Mistkerl verloren.
Und wurde gerettet.
Gerade noch so.
Wieso musste mir ausgerechnet Adrien das vorhalten, wo ich es doch so mühsam verdrängt hatte?
Ich schwieg. Die Stille griff auch auf ihn über, und schließlich hatte ich auch aufgehört zu singen.
Umklammerte mit beiden Händen gewaltsam das Lenkrad.
„Lui…“
Dass „Sie“ war auch wieder da. Vielleicht lag es an den Kleidern. Oder dem Gespräch. Konnte man so etwas als Streit bezeichnen? Ich schluckte. Rang mich zu einem Lächeln durch als wir im _________ ankamen. „Alles klar. Gehen wir?“
Er nickte. Natürlich gingen wir.
Im La Fleur du Monde, dem Restaurant in das wir uns letztendlich setzten, schien irgendeine Veranstaltung stattzufinden. Ein Buffet war aufgebaut, die Menschen standen mit edlen Sektgläsern darum verteilt und redeten. Es lief klassische Musik. Ganz nobel.
Wir hatten es wohl entweder den Kleidern oder meinem Namen zu verdanken, dass wir problemlos hineinkamen und uns unter die Menge mischten als gehörten wir dazu.
Mit einem Seitenblick betrachtete ich Adrien und hatte das Gefühl seine Augen in Anbetracht all der teuren Schmuckstücke leuchten zu sehen.
„Sie werden hier nichts stehlen“, zischte ich ihm zu. Vielleicht ein wenig zu laut. Ein Mann mit roter Krawatte der beim Buffet gestanden hatte drehte sich in eben diesem Moment zu uns um und lief zwischen uns hindurch nach hinten in den Raum in dem ihn eine blonde Frau mit passend rotem Kleid erwartete. Ich war doch ganz zufrieden ein Kleid gewählt zu haben, das zu seiner Krawatte passte.
Natürlich nur der Ästhetik wegen.
„Nicht so laut“, gab er mit gesenkter Stimme zurück. Ich folgte seinem Blick zum glänzenden Collier einer älteren Frau und fragte mich, wie diese mit so viel schwerem Schmuck überhaupt herumlaufen konnte.
„Außerdem heißt es zaubern.“
Wir setzten uns an einen Tisch, an dem man noch halbwegs ungestört reden konnte. Ich sah aus dem Fenster. Betrachtete die Vorbeilaufenden. Adrien war aufgestanden um sich etwas zu Essen zu holen. Kam mit voll beladenem Teller zurück und nahm mit süffisantem Lächeln zwei Gläser Sekt vom Tablett eines vorbeilaufenden Kellners. Eines davon reichte er mir. Stieß ungefragt kurz sein Glas gegen meines.
Wirkte viel zu gut gelaunt.
„Nun schauen sie nicht so beleidigt.“
Ich erhob mich kurzerhand und ging um den Tisch zu ihm herum um in seinen Anzugstaschen nach Schmuck zu suchen.
Adrien ließ es schweigend und sichtlich amüsiert über sich ergehen. Seine lockere Art machte mich fast noch ein wenig wütender.
„Da werden sie nichts finden.“, gab er zu Bedenken.
Nachdem ich seine Kleidung trotzdem ausführlich untersucht hatte sank ich mit verschränkten Armen zurück auf meinen Stuhl und betrachtete ihn wachsam. Er grinste immer noch. Ganz unschuldig.
„Ich würde mir doch hier nichts leihen.“
„Stehlen“, korrigierte ich ihn automatisch. Es mit Worten zu verschönern war nun wirklich nicht notwendig.
Als er aufstand um zur Toilette zu gehen wir er sagte folgte ich ihm unauffällig und hielt ihn dann im menschenleeren Flur an um seine Kleidung misstrauisch wie ich war noch einmal abzusuchen.
Dieses Mal wurde ich fündig und wedelte mit dem silbern glänzenden Armband vor seiner Nase herum. Er hatte sich noch immer nicht bewegt und sah nicht gerade schuldbewusst aus.
„Es tut mir Leid.“, log er. Zuckte mit den Schultern. Und deutete noch bevor ich den Mund aufmachen konnte unschuldig auf eine Frau am Buffet die sich mit einer anderen angeregt unterhielt und das Fehlen ihres Schmucks wohl noch gar nicht bemerkt hatte.
Ich warf Adrien einige Beschimpfungen an den Kopf und brachte der armen Frau dann das Armband zurück, die mich anstarrte wie eine Aussätzige während ich mich in aller Form für meine Begleitung entschuldigte, die auf die Toilette verschwand und auch zurück am Tisch keinerlei Reue zeigte.
Als er das nächste Mal zum Buffet ging und versprach, mir etwas mit zu bringen, drückte ich sogar beide Augen zu als er „tollpatschig“ wie er war gegen einen mürrisch dreinschauenden Mann stieß. Als er zurückkam fragte ich erst gar nicht.
Knabberte schweigend an meinem Baguette.
Und dachte, dass Adrien eben Adrien war.
Und ich ihn gar nicht verändert haben wollte.
Aus meinem Schuldbewusstsein heraus nahm ich ihm dann außerhalb des Restaurants am Ende des Abends noch eine Kette, und zwei Paar Ohrringe ab, und hatte das Gefühl dabei drei Ketten, vier Paar Ohrringe, ein Armband, eine Brosche, und sicherlich fünf Ringe übersehen zu haben.
Aber ich beließ es dabei.
Ganz ohne Reue.
„Ich kann sie noch nach Hause bringen“, bot ich ihm an als wir schon vor meinem Auto standen.
Wenn ich eins und eins zusammenzählte war mir schnell klar, dass es noch ein ganzes Stück war bis er zu Hause wäre. Wo auch immer er lebte.
Aber er lehnte ab.
Und lenkte auf ein anderes Thema. Deutete auf den Anzug an seinem Körper.
„Ich bringe ihnen den Anzug dann morgen zurück?“
Morgen.
Es gab ein Morgen.
Wie wunderbar das klang.
Ich musste grinsen. Und obwohl der Gedanke verlockend war schüttelte ich den Kopf.
„Mein Vater braucht ihn nicht mehr. Behalten sie ihn.“
Adrien schien sich irgendwie ja aufrichtig zu freuen.
„Wirklich? Danke.“
Er machte Anstalten sich umzudrehen. Weg zu gehen.
„Dann bringe ich sie zur Metrostation.“
„Das ist wirklich…“
Er wollte sagen „Unnötig“. Ich wusste es. Und ich ahnte dass er in Wirklichkeit nur nicht wollte, dass ich eine Ahnung hatte wo er lebte.
Aber ihm selbst wurde schnell klar, dass der Weg wohl doch noch recht weit war, und ließ sich wie von mir angeboten zu der Metrostation mit dem Kiosk bringen, an dem wir uns schon so oft über den Weg gelaufen waren.
Dann hielt ich an. Sah ihn die Tür öffnen. Ich wollte etwas sagen wie „Sehen wir uns morgen?“ Oder einfach nur „Sehen wir uns wieder?“ Aber es kam mir alles ziemlich unangebracht vor. Und unangenehm. Also stieg er ohne ein Wort von mir aus und wünschte mir mit seinem schiefen Grinsen eine gute Nacht. Ich erwiderte die Floskel halbherzig.
Skeptisch was die nächsten Tage anging.
Um 22 Uhr dieses Abends sah ich ihn also in der Metro verschwinden, als der perfekte Casanova den er in dem schwarzen Anzug abgab.

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PostSubject: Re: Biscuit   Biscuit EmptyTue Aug 31, 2010 12:55 pm

-.- Passer -.-

Ich hatte es zu Hause geschafft mich an der Wohnung meiner Nachbarin vorbei zu schleichen und so nicht noch einmal angesprochen zu werden.
Nicht, dass das so schlimm gewesen wäre.
Aber ich hatte genug Konversation für den Abend gehabt, und ich hatte auch noch mehr als genug Kekse.
Die immer noch auf dem Tisch standen.
Unangerührt.
Als ich in die Küche kam und das Licht anschaltete sahen die beiden Hunde nur kurz müde auf und schliefen dann weiter. Wie so oft lagen sie mehr übereinander als wirklich nebeneinander und gaben dabei ein wirklich herzzerreißendes Bild ab. Ich warf ihnen einen Stolzen Blick zu und bewegte mich leise um sie nicht in ihrem Hundeschlaf und den dazugehörigen Träumen zu stören.
Ohne wirklichen Appetit schob ich mir einen viel zu süßen Keks in den Mund und trank einen Schluck Leitungswasser hinterher. Das machte es erträglicher. Und irgendwie musste ich die Kekse ja loswerden. Ich überlegte, sie am Montag ins Revier mit zu bringen und dort zu verschenken. Dann könnte ich sie am Ende guten Gewissens wegwerfen und Madame Poiris sagen, dass sie leer geworden wären, auch wenn sicher ein Rest geblieben wäre. Ich verwarf den Gedanken allerdings schnell wieder als ich daran dachte, dass der Neffe Pierre, der nie mehr gewesen war als „Der Neffe“ ja auf dem Revier war, und die Kekse durchaus erkennen könnte. Ich war überzeugt dass er häufig solche geschenkt bekam, schließlich schien er seine Tante oft zu besuchen und ihr von mir zu erzählen.
Mit einem Seufzen ging ich ins Bad und schminkte mich ab, schälte mich aus dem goldenen Kleid und zog stattdessen mein Nachthemd an.
Dachte an den vergangenen Abend.
Und war guter Hoffnung ihn bald wieder zu sehen.
Wenn er mir nur nicht aus dem Weg ging.
Ja, ich betete, dass er bei mir blieb. Auf die ein oder andere Weise.

Ich sah ihn tatsächlich schneller wieder als ich erwartet hatte. Vor allem aber störte mich sein Gesichtsausdruck an diesem Morgen.
Wie so oft saß ich in der Metrostation, trank meinen Kaffee und hielt ganz unauffällig nach ihm Ausschau. Ich blätterte sogar in dem Philosophiebuch, dass ich aus der Bibliothek in der er arbeitete ausgeliehen hatte, nur um einen Grund zu haben, dort zu sein.
Sokrates war eine Person gewesen, die in meinen Augen zu viel gedacht hatte, und es fiel mir schwer alles nach zu vollziehen was in diesem Buch geschrieben stand und in direkter Verbindung mit dem Leben des kleinen großen Philosophen stand.
Der Kioskbesitzer hatte es wohl aufgegeben mich böse anzustarren, weil ich meinen Kaffee betont langsam trank und gar nicht mehr verschwinden wollte.
Als ich den ersten Kaffee dann getrunken hatte, Adrien noch nicht aufgetaucht war, und ich doch immer noch hoffte ihn zu sehen, kaufte ich mir sogar einen zweiten und ließ mir ähnlich viel Zeit damit wie mit dem Ersten. Dann sagte eine Stimme meinen Namen.
Und ließ mich aufschauen.
Und enttäuscht die Lippen verziehen.
Adrien war es nicht.
Der blonde Neffe sah mich mit einem halben Lächeln an und fragte ganz leise, ob er sich zu mir setzen dürfe. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht verstanden.
Wieso redete er in der von Menschen überfluteten Metro auch so leise? So unverständlich? Und das tat er wirklich immer wenn er mit mir redete. Ich verstand es jedenfalls nicht. Sein benehmen.
Er wiederholte seine Frage also lauter und stammelnd und ich nickte etwas widerwillig und gedankenverloren, nahm einen weiteren Schluck meines Kaffees und behielt die Menge im Auge.
Pierre schien aus meinem suchenden Blick nichts weiter lesen zu können. Er schwieg und ich spürte, wie er mich von der Seite aus die ganze Zeit ansah.
Was sehr irritierend war, möchte ich anmerken.
Und er hörte auch nicht damit auf, bis ich ihn fragte, was er hier tat.
„Der Kioskbesitzer sieht es nicht gerne, wenn man hier nur rum sitzt.“, sagte ich und hob meinen Kaffeebecher an. Sah wieder in die Menge.
Er murmelte mit hochrotem Kopf eine Antwort die Klang wie ein Geständnis.
Ich sah ihn verständnislos an. Lange. Und er wurde anscheinend zusehends nervöser, denn er starrte mich an und drehte wortwörtlich Däumchen bevor ich eine Hand an mein Ohr hielt und laut sagte „Wie bitte?!“
Pierre sah mich erschrocken und mit geöffnetem Mund an. Lange. So lange, dass es wirklich nervig wurde. Ich verengte verärgert die Augen.
Was war nur los mit dem Kerl?
Jaqueline sollte es mir später erklären. Aber davon wusste ich ja jetzt noch nichts. Der Arme schloss den Mund wieder und senkte aus irgendeinem Grund enttäuscht und peinlich berührt den Kopf.
Was er sagte wiederholte er jedenfalls nicht mehr, erhob sich dann und verabschiedete sich mit geröteten Wangen in aller Förmlichkeit.
„Also…ich gehe dann jetzt zum Revier.“
Dann lief er noch röter an. „Lu…Lui, vielleicht könnten wir mal zusammen essen….“
Er hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, aber ich hatte ihm ohnehin nicht zugehört. Noch während er sprach sprang ich auf und rannte zu der Gestalt im dunklen Mantel und mit den wuscheligen Haaren, die sich da in der Menge treiben ließ und aus einem mir noch unbekannten Grund ziemlich blass aussah.
Treiben, das war das richtige Wort. Er ging nicht zielgerichtet wie sonst und vor Allem: Er kam aus der falschen Richtung.
Ich stoppte irritiert zwei Meter von ihm entfernt und schrie seinen Namen.
Hatte das Gefühl, das meine freudig angehauchte Stimme fehl am Platze war.
Adrien drehte sich nur langsam zu mir um und sah wirklich mitgenommen aus. Er tat mir auf Anhieb Leid ohne dass ich wusste, was überhaupt passiert war.
„Oh, Lui.“
Jetzt ging er jedenfalls doch recht zielgerichtet an mir vorbei zum Kiosk. Ich wandte mich um, um ihm zu folgen, nicht wenig verwirrt. Normal benahm er sich jedenfalls nicht, und ich wüsste auch keinen Grund, wieso er mir aus dem Weg gehen sollte.
Pierre war mittlerweile verschwunden. Eigentlich war es mir ganz egal.
Zu meiner Verwunderung und schnellem Entsetzen verlangte Adrien am Kiosk zwei Flaschen Cognac.
Es waren zwei Minuten in denen ich die Welt nicht mehr verstand.
Nachdem ich völlig überrumpelt stehen geblieben war und ihm nur schweigend zugesehen hatte – ich hatte nicht wirklich erwartet dass er trank – rannte ich wieder zu ihm und riss ihm die Flaschen gleich aus der Hand. Eine zumindest. Und die gab er ganz freiwillig her.
„Wollen sie auch eine? Bitte.“
Ich sah ihm in die Augen. Er dagegen sah mich gar nicht an. Nur irgendwo ins Leere. Mir kam das ganze doch etwas seltsam vor. Ich hatte das Gefühl ihn schütteln zu müssen.
Adrien öffnete die Flasche und nahm ganz ungerührt einige hastige Schlucke.
Noch immer recht bewegungslos starrte ich ihn mit großen Augen an.
Riss ihm dann erst die Flasche weg, die er sich nicht nehmen ließ, und so hielt ich einfach nur seine Hand fest damit er nicht mehr trinken konnte.
Seine Hundeaugen sahen wirklich traurig aus.
Erschreckend.
Ich schluckte. Versuchte erneut mit sanfter Gewalt seine Finger von der Flasche zu lösen.
„Hey…was immer passiert ist, zu trinken ist auch keine Lösung.“
In meiner Stimme schwang die Sorge mit. Was ihn gar nicht zu interessieren schien.
Er riss sich einfach los und nahm noch einen Schluck. Benahm sich wirklich erbärmlich.
„Keine Lösung aber ne gute Ablenkung.“
Dann deutete er wieder auf die Flasche die ich mit der anderen Hand umklammerte. Anstatt seinem Vorschlag nach zu kommen und mich einfach mit ihm zu betrinken warf ich die Flasche in den nächsten Mülleimer.
Was auch immer er gedacht hatte, was ich tun würde. Ich zischte verärgert seinen Namen.
Was immer es war, so schlimm konnte das doch gar nicht sein!
“Er hat gesagt ich brauche nicht wieder zu kommen…“
Es klang mehr als spräche er mit sich selbst. Ich blieb neben ihm stehen, unfähig wirklich etwas zu tun.
„Wer?“
„Na Er. Einfach so. Ganz plötzlich.“
Ich verstand immer noch nicht wovon er redete. Aber langsam kam mir eine dunkle Ahnung. Ich biss mir auf die Unterlippe. Verunsichert.
„Dabei mache ich das jetzt schon seit Jahren.“
Jetzt sah er mich doch an.
„Seit Jahren! Und er schickt mich einfach so weg.“
Mittlerweile war ich mir doch recht sicher. Und wollte ihn einfach in den Arm zu nehmen. Trösten. Stattdessen fragte ich nüchtern:
„Der Bibliothekar…hat sie entlassen?“
Adrien lachte bitter.
Und verstört.
Antwort genug.
„Warum?“, fragte ich. Stand nur hilflos da. Adrien setzte sich die Flasche wieder an die Lippen. Und seine Worte versetzten mir dann doch einen Schlag. Dabei sagte er sie mit einem Lächeln. Einem schrecklichen, ironischen Lächeln.
„Wegen ihnen.“
Ich schwieg. Was hätte ich sonst tun sollen?
“Wegen euch verdammten Polizisten!“
Letztendlich schaffte ich es doch, ihm nach die Flasche zu entreißen, die er beinahe zur Hälfte geleert hatte. Entsetzt und angewidert ließ ich die Flasche in den Mülleimer zu der anderen fallen.
Er wandte sich mit gläsern wirkenden Augen um. Machte Anstalten zu gehen.
Ich ging neben ihm her. Wirkliche Mühe mit zu halten hatte ich nicht. „Wo wollen sie denn jetzt hin?“
“Keine Ahnung. Nach Hause. Ich hab’ ja jetzt nichts mehr zu tun.“
Seine Verzweiflung verzweifelte mich fast noch mehr. Und die Gewissensbisse setzten ein. Nagend und grausam und unerbittlich. Dabei hatte ich nichts falsch machen wollen.
Ihm nicht schaden wollen.
Ich hätte doch nie erwartet dass dieser Bibliothekar sich allein von meinem Namen gleich so bedroht fühlen würde! Natürlich hatte er den Taschendieb illegal dort beschäftigt, aber für Adrien hätte ich doch nie….ja….aber das konnte er ja nicht wissen.
Ich hatte es doch selbst festgestellt.
Die Menschen konnten nun einmal nicht in meinen Kopf sehen.
Adrien ging weiter. Ließ mich stehen. Und wieder eilte ich ihm nach.
„Jetzt warten sie doch. Wir finden eine Lösung, ich kann doch noch mal mit ihm reden!“
Wieder das bittere Lächeln. Um meine Kehle schnürte sich ein enger Knoten der sich nicht mehr lösen wollte.
„Sie machen es ja doch nur noch schlimmer.“
„Tun sie nicht so als wäre das alles meine Schuld!“
“Ist es doch.“
Ja, irgendwie war es das schon.
Ich schüttelte heftig den Kopf. Schnappte mir seine Hand, die sich von der gekühlten Cognacflasche noch kalt anfühlte, und zog ihn mit mir aus der Metrostation.
Adrien seufzte nur. Stand neben sich. War nicht er selbst.
„Was wollen sie denn jetzt noch von mir?“
Er versuchte scheinbar, mich böse anzusehen. So wirklich funktionierte es nicht. Seine Augen jedenfalls waren halb geschlossen und so wirklich sicher lief er nicht. Ich wusste nur halb was ich tat, aber dass ich ihn jetzt so nicht allein lassen würde, war mir klar.
„Ich lasse sie jetzt sicher nicht einfach allein.“
„Warum? Lassen sie mich schon in Ruhe.“
Es tat weh, was er sagte. Ich schluckte um den Knoten los zu werden. Begrub meine Trauer. Schluckte die Tränen herunter die sonst über mein Gesicht gelaufen wären. Warum benahm er sich auch so erbärmlich?
Und warum war die Welt so ungerecht?
Ich hielt immer noch seine Hand und nahm ihn mit zu meinem Auto. Warum wusste ich auch nicht so Recht.
„Lui…“
„Ich lasse sie so jetzt nicht nach Hause!“
Ich war aufgebracht. Natürlich war ich das. Letztendlich leistete er keinen sonderlich starken Widerstand und ich schaffte es, ihn ins Auto zu schieben.
Ungefähr auf der Hälfte des Weges zu meiner Wohnung begann er wieder über mich zu schimpfen und mit schmerzendem Herzen schob ich diese abweisende Art auf den Alkohol der nun wohl zu wirken schien. Dann schlief er ein.
Und ich hatte einige Mühe ihn in den Aufzug zu verfrachten. Immerhin wachte er vor meiner Tür noch einmal halb auf und torkelte selbst in meine Wohnung. Gerade rechtzeitig, dass Madame Poiris ihn nicht zu Gesicht bekam, deren Lauer Erfolg gehabt hatte.
Allerdings ließ ich ihr dieses Mal nicht die Zeit mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich begrüßte sie kurz und schlug dann allzu deutlich die Tür hinter mir zu. Ganz einfach. Warf einen Blick zur Uhr.
Halb elf. Heute Abend wollte mein Vater zum Essen kommen. Na Wunderbar!
Erst dann warf ich einen wirklichen Blick in meine Wohnung.
Beide Hunde lagen immer noch laut bellend auf meinem „Gast“, der das dieses Mal nicht wirklich mit zu bekommen schien. Adrien jedenfalls wimmerte nur und schütze sich nur halbherzig. Ich zog ihm müde den Umschlag aus dem Mantel und befahl den Hunden von ihm abzulassen.
Den Umschlag sperrte ich erneut in die Schublade.
Anschließend verfrachtete ich Adrien, der es aufgegeben hatte sich zu wehren in mein Bett und nahm ihm gerade noch den Mantel ab bevor er einfach auf der Stelle wieder einschlief.
Eine Weile blieb ich schweigend neben ihm sitzen. Ich hatte mit ihm sprechen wollen. Ihm sagen wollen, dass das nicht der Weltuntergang war. Das man schon etwas für ihn finden würde.
Ja, ich hatte ihm sagen wollen „Ich bin für dich da“, aber so etwas hätte ich nie aussprechen können. Nicht zu ihm. Und nicht, wenn ich doch Schuld an allem war.
Ich verzog mich zurück ins Wohnzimmer und unterlag der ständigen Versuchung, den Umschlag zu öffnen um zu sehen was darin war. Aber ich ahnte dass das Adrien, wenn er wirklich eine Art Kurier war, ziemliche Probleme bereiten wollte. Und noch mehr Probleme wollte ich ihm wirklich nicht schaffen.
Ich saß gut eine Stunde im Wohnzimmer, ging dann erneut ins Schlafzimmer und sah zusammen mit Michael Jackson auf den Taschendieb herunter, der tief und fest in meinem Bett schlief.
Mein Gott, wie hatte es auch jemals dazu kommen können? So wie er drein geschaut hatte, hatte ich das Gefühl sein Leben völlig zerstört zu haben.
Hatte das Gefühl, dass er mich abgrundtief hassen musste. Dass er weglaufen und niemals wieder kommen würde, wenn ich ihn jetzt gehen ließ.
Irgendwann begann ich dann selbst zu weinen. Warme Tränen landeten auf der Bettdecke neben ihm.
Für diese gute halbe Stunde in der ich einfach nur den Rand meines Bettes umklammert hielt, fühlte ich mich schrecklich allein. Nicht einmal Jaquelines Stimme hätte geholfen.
Ja, er musste mich sicherlich hassen.
Vertraute mir nicht. Was er eigentlich ja auch nicht sollte.
Vor Allem aber sollte ich ihm nicht vertrauen.
Sollte ihn aufgeben. Ein einziger Blick in das schlafende Gesicht reichte um mich davon zu überzeugen, dass ich ihn aber gar nicht aufgeben wollte. Nicht konnte. Es nie über mich gebracht hätte.
Adrien war nicht wie Jaqueline. Kannte mich nicht. Verstand mich sicherlich auch nicht.
Aber ohne Recht zu wissen wieso wollte ich, dass er mich verstand. Er allein. Und mich nicht hasste. Und nicht allein ließ.
Weil allein, das dachte ich, würde ich sein, wenn er mich mied. Schon wieder. Schlimmer, als das letzte Mal. Ich strich ihm flüchtig das Haar aus der Stirn.
Ich konnte nicht einmal wagen, ihn als einen Freund von mir zu bezeichnen. Nein, das hätte er schließlich auch nie getan. Aber irgendwie war er es doch. Jemand, dessen Freundschaft ich mir wünschte, und der so oft da war, dass ich einfach begonnen hatte, ihn einen Freund zu nennen.
Ich begann erneut zu weinen nachdem ich mich doch eben erst halbwegs beruhigt hatte. Und zwang mich nach einer Viertelstunde die so verging mich zusammen zu reißen. Mein Vater käme erst in acht Stunden und sollte auf keinen Fall sehen, dass ich geweint hatte.
Ich schloss die Schlafzimmertür erneut hinter mir. Blieb im Wohnzimmer. Dachte über die Drogen nach, sein Leben, und die Tatsache, dass er jetzt wohl zumindest nirgends mehr eine feste Anstellung hatte.
Käme er denn klar, allein durch das Stehlen?
Ich konnte und wollte ihn nicht mit irgendwelchen Drogenorganisationen zu tun haben lassen.
Das war es, was ich verhindern wollte.
Und ich vermutete bereits, dass das nicht einfach werden würde. Aber es musste doch für alles eine Lösung geben!
Wenn es keine gab, und ich wollte gar nicht daran denken, würde ich das mir selbst nicht verzeihen.

Adrien wachte eine Stunde auf, bevor mein Vater vorbeikommen wollte um mit mir zu Essen.
Ich war dabei, Speck für eines der einzigen Gerichte zu schneiden, das ich kochen konnte.
Nudeln mit Tomatensoße.
Und Essiggurken.
Mit einem Mal stand er in der Tür zum Schlafzimmer und musterte mich aus ziemlich müden Augen.
Wortlos deutete ich auf die Aspirin die neben einem Glas Wasser auf der Kommode stand, und die ich für eben jenen Fall vorbereitet hatte.
Und schnitt weiter Speck.
Adrien, der nicht die Kraft zu haben schien sich jetzt gleich zu beschweren nahm die Tablette auch nahezu augenblicklich ein. Ich konnte mir gut vorstellen was für Kopfschmerzen er haben musste.
Eine halbe Flasche Cognac, mein Gott!
Nachdem ich mich der Trauer lang genug ergeben hatte, kam eine gedämpfte Wut dazu, die jetzt wieder aufflammte.
„Du bist ein richtiger Idiot.“, sagte ich ihm. Eigentlich grundlos.
Adrien, der aussah als würde er sich lieber wieder hinlegen, setzte sich schweigend an den Küchentisch. Und sagte dann irgendwann: „Du hast ein Poster von Michael Jackson an deiner Wand hängen.“
Es war eine Feststellung.
Und klang wie eine Frage.
Ich errötete weil ich vergessen hatte es abzuhängen.
Ich hatte ja auch schlecht damit rechnen können, dass er so früh aufwachen würde. Und ich schluckte schwer bei dem Gedanken dass ich ihm jetzt erst einmal ein paar Dinge würde sagen müssen.
Am besten würde ich gleich damit beginnen.
Ich holte Luft um zu sprechen.
Schnitt mir prompt in den Finger.
Adrien und ich starrten das hervorquellende Blut gleichermaßen an. Ich fassungslos. Verblüfft. Er einfach nur müde.
Bevor ich also sprach stand ich auf und holte mir ein Taschentuch für meinen Finger. Ich stand noch an der Anrichte und legte das Messer in die Spüle, damit er gar nicht erst auf die Idee kommen würde mir noch einmal zu drohen.
Dazu lag auf der Ablage ganz offensichtlich der Elektroschocker. Direkt neben mir.
Bereit, ergriffen zu werden.
Und die Tür hatte ich abgesperrt.
Adrien schien meinem überaus nervösen Blick zu folgen ohne zu verstehen, was es zu sehen gab.
Ich nahm an dass er bereits ahnen konnte, dass ich ihn nicht so leicht wieder ziehen lassen würde.
Also fing ich an.
Und machte es kurz.
„Also.“
Das war das erste. Wirklich kurz.
„Weil du deine Arbeit verloren hast und ich daran schuld bin, werde ich versuchen das gerade zu biegen.“
Adrien machte Anstalten etwas zu erwidern. Ich gebot ihm streng zu schweigen.
„Und ich werde dich nicht so leicht gehen lassen.“
Eigentlich ganz offensichtlich.
„Weil du sonst mit diesem Drogenzeugs weiter machst und dein Geld vermutlich nur noch mit Verbrechen verdienst.“
Während das für mich nur vernünftig klang, und gut nachvollziehbar, sah Adrien nicht gerade glücklich aus.
Ich fuhr fort. Noch ganz ungerührt.
„Ich habe ja gesehen, wie du alleine zu Recht kommst.“
Fas wiederum war eigentlich wirklich nur Gerede. Dass er seinen Job verloren hatte und deswegen so viel getrunken hatte, war ja doch irgendwie nur meine Schuld gewesen. Irgendwie. Obwohl das natürlich nie meine Absicht gewesen war.
So gesehen war er ohne mich wohl auch ganz gut klar gekommen. Aber da ich das nicht wahrhaben wollte, schob ich es beiseite.
„Ich werde dich also nicht mit diesem Zeug aus der Wohnung lassen.“
Jetzt protestierte er wirklich. Ziemlich erschrocken.
„Lui, ich muss das abliefern!“
“Nein!“
Ich sprach ungewohnt schneidend. So viel Schärfe hätte ich meiner eigenen Stimme nicht zugetraut. Innerlich sah es allerdings anders aus. Ich war den Tränen nahe. Schon wieder.
„Lui, die bringen mich um!.“
Wieder biss ich mir unruhig auf die Unterlippe. Fragte danach, wer „die“ waren. Und er konnte es mir scheinbar wirklich nicht sagen.
Mittlerweile war er wirklich nicht der einzige, der verzweifelt wirkte.
„Aber solange du hier bist, können sie dich ja nicht finden…“
Ich wusste selbst wie kindisch und unvernünftig das klang. Er sprach aus, was ich im Grunde auch dachte. Massierte sich müde die Schläfen.
„Verdammt, Lui. Du kannst mich nicht ewig hier behalten. Lass mich das abliefern und lass mich gehen. Das geht dich doch alles nichts an.“
Ich verschluckte mich an meinen eigenen Tränen. So zumindest fühlte es sich an. Sie rutschten zurück in mein Herz und ätzten dort Löcher hinein, die brannten wie Feuer.
„Nein.“, beharrte ich. „Ich will nicht, dass du weiter mit diesen Typen zu schaffen hast. Ich will auch nicht, dass du nur vom Stehlen lebst.“
„ich kam bisher gut klar.“
„Das ändert nichts daran, dass es so nicht weitergehen kann!“
„Das ist nicht dein Problem.“
Ich stellte ihm einen Kaffee vor die Nase. Adrien rieb sich immer noch den Kopf. Ich war in meiner verzweifelten Wut fast schon schadenfroh.
Selbst Schuld.
„Jetzt schon.“
Mit aller Kraft versuchte ich, ruhig zu sprechen. Überzeugt. Versuchte die Tränen zurück zu drängen. Und wütend zu sein, um nicht traurig zu werden.
Das mit der Wut klappte doch ganz gut.
Adrien verfiel eine Weile in Schweigen.
Versuchte es dann noch einmal mit dem logischsten Argument.
„Die lassen mich nicht in Ruhe, Lui. Und ich kann nicht ewig hier bleiben. Irgendwann werden sie mich finden, und dann…dann bist auch du nicht sicher.“
Obwohl ich mir diese Feststellung lange durch den Kopf gehen ließ, konnte ich nicht dafür sprechen. Konnte ihm nicht Recht geben.
Minutenlang sah ich ihn an, beobachtete ihn beim Kaffeetrinken.
„Gut.“
Er sah hoffnungsvoll auf.
„Gut, dann lieferst du das Zeug eben ab.“
“Siehst du, das ist doch viel… - “
“Aber ich komme mit.“
Aus der Erleichterung in seinen Hundeaugen wurde Entsetzen. „Was? Nein!“
„Doch.“ Ich versuchte nicht so zu klingen wie ein kleines Kind. Dabei hatte ich das Gefühl bitter zu scheitern.
„Das ist zu gefährlich. Lass mich gehen, du bleibst hier.“
Ich begann, unschuldig wieder Speck zu schneiden.
„Das stört mich nicht. Ich komme mit. Mit einigem Abstand natürlich. Und schaue, dass alles recht läuft. Und dann…dann kommst du wieder mit mir hierher.“
„Das kannst du nicht…“
„Das ist mein letztes Wort. Und die einzige Wahl, die ich dir lasse.“
Ich verfrachtete den Elektroschocker an meinem Gürtel. Und behielt Adrien genau im Auge.
„Das ist Freiheitsberaubung“, belehrte er mich trotzig, aber es klang nicht mehr wirklich so, als wolle er Widerstand leisten. Meinen Blick behielt ich auf den Speck gerichtet den ich zu den Zwiebeln in eine Pfanne strich und mich fortan aufs Kochen konzentrierte. Dann schickte ich Adrien ins Schlafzimmer, der nicht so recht verstand. Ich erinnerte mich, etwas vergessen zu haben.
„Mein Vater kommt in einer halben Stunde zu Besuch.“
Da sprang er doch auf. „Aber…“
Ich warf ihm einen strafenden Blick zu. „Er will dich kennen lernen. Ich habe angerufen als du geschlafen hast und gesagt, dass du uns beim Essen Gesellschaft leisten wirst.“
Der Dieb in meiner Küche schüttelte entschieden den Kopf. „Du kannst unmöglich von mir verlangen, dass ich mit deinem Vater seelenruhig zu Abend esse!“
„Solange du dich halbwegs normal verhältst kann er dir ja nichts anhaben. Ich denke ich kenne meinen Vater gut genug.“
Das tat ich allerdings. Und nachdem Jaqueline ihm in den Kopf gesetzt hatte, das Adrien mehr sein könnte als ein Freund, hatte er darauf bestanden ihn kennen zu lernen. Im Grunde konnte ich mir sicher sein, dass er damit nur sichergehen wollte, dass seine Tochter nicht an „irgendeinen daher gelaufenen Punk“ geriet, der der Polizei ein Dorn im Auge war. Und deswegen wäre es umso wichtiger, dass ihrem Vater klar war, dass Adrien völlig in Ordnung war.
Meistens zumindest.
Und kein Krimineller.
Nach außen hin zumindest.
Adrien, der bald einsah dass er nicht wirklich eine andere Wahl hatte ließ sich grummelnd von mir ins Schlafzimmer schieben und sich ein Hemd von meinem Vater reichen.
„Sieht ordentlicher aus.“
„Geht das denn klar?“
“Sicher, wir sagen einfach, dass deine anderen Kleider schmutzig geworden wären.“
Adrien zog sich seufzend seinen Pullover über den Kopf und ich wandte mich wieder ab um weiter zu kochen. Ich war jetzt schließlich etwas in Verzug mit dem Abendessen.
Als mein Vater klingelte hatte Adrien völlig resigniert und zuckte nur noch ein Mal zusammen. Er hatte sich auf das Sofa gesetzt und nervös die Hunde betrachtet.
Fred und Sam.
Die so treu waren.
Und Adrien zu unser beider Erleichterung nicht weiter anfielen.
Mein Vater kam in seiner üblichen, förmlichen Kleidung und begrüßte mich mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Stirn. Adrien reichte er mit dem festen Händedruck den ich von ihm kannte die Hand. Und ließ sie auch recht schnell wieder los. Den anderen wachsam musternd.
Ich beobachtete Adrien selbst aufs Genauste und konnte nur Hoffen dass er nichts Falsches sagte oder tat. Ich hatte ja nicht wirklich viel zeit gehabt ihn vor zu bereiten.
Da die Nudeln noch zu Kochen hatten, setzten sich die beiden Männer bereits an den Tisch. Und schwiegen beharrlich.
Mein Vater begann nur zögernd, den neuen Freund wie ich ihn genannt hatte, mit unverfänglichen Fragen zu löchern. Bald schon war das ganze mehr ein Verhör als ein ganz gewöhnliches Abendessen.
Die Art, wie mein Vater sprach, machte es für Adrien wohl nicht gerade einfach.
„Als was arbeiten sie?“, war die erste Frage.
Und Adrien sagte wahrheitsgemäß dass er mit Akten und Büchern gearbeitet hätte, im Moment aber arbeitslos wäre.
Zudem musste er meinem Vater versichern, dass er zurzeit keine Freundin hätte. Und gute Aussichten auf eine neue Arbeit habe. Die Fragen betreffend unseres Kennenlernens beantwortete dann ich, sobald ich das Essen serviert hatte und mich selbst dazusetzte.
Dummerweise liefen die Fragen meines Vaters darauf hinaus, dass Adrien sich entweder als kompletten Versager hätte darstellen, oder lügen müssen.
Also tat er letzteres. Redete um die meisten Fragen geschickt herum und wenn, dann log er. Er log wirklich ganz ausgezeichnet. Wo ich konnte wehrte ich die Fragen meines Vaters ab und stellte Gegenfragen, um das Gespräch von Adrien weg zu lenken. Am Ende bat ich meinen Vater einfach, den Armen nicht so mit Fragen zu bestürmen, und etwas widerwillig stimmte Monsieur Petit mir zu und beendete das Verhör damit.
Stattdessen folgten kleine Anekdoten aus unserem Leben zu denen Adrien nicht viel sagte und nicht viel sagen konnte. Und mein Vater wurde nicht müde zu betonen, was für ein großartiges Mädchen ich wäre, und dass ich irgendwann einen ausgezeichneten Mann finden würde.
Irgendwann.
Sollte heißen, dass ich ihn noch nicht gefunden hatte. Ich selbst verstand die Andeutung und bedachte sie mit einem erzürnten Blick, Adrien schien nichts davon wirklich mit zu bekommen. Aß nur Nudeln. Ganz unschuldig. Und betrachtete die Essigkuren im Essen ein wenig skeptisch.
Während ich den Tisch abräumte unterhielten sich Adrien und mein Vater dann über Autos, Technik, und die niemals perfekte Gesellschaft. Ja, er log ausgezeichnet. Viel zu gut. Mich machte es misstrauisch, dann wieder erleichtert, denn als mein Vater am Ende des Abends erneut die Hand meines neuen Freundes drückte und sich verabschiedete, erschien es mir, als habe Adrien einen guten Eindruck hinterlassen.
Und das konnte schließlich nie schaden, für den Fall das man je etwas gestehen musste.
Etwas, dass schlimme Befürchtungen bestätigen würde. Und ihn enttäuschen könnte.
Trotz allem sah man Adrien die Erleichterung an als mein Vater dann endgültig gegangen war.
Sein Blick zuckte mehrmals zur Uhr. Mit einem Mal hatte er es recht eilig los zu gehen. Erneut drängte er mich, hier zu bleiben, was ich entschieden ablehnte. Ich hatte mich entschlossen, das ganze zu überwachen, und Adrien so gut zu helfen wie ich konnte. Ich würde ihn nicht allein gehen lassen.
Und auch das war mein letztes Wort.
















-.- dénoncer -.-

Bevor wir uns ins Auto setzten stopfte ich meine Umhängetasche mit allem voll, von dem ich glaubte es brauchen zu können. Pfefferspray. Handschellen. Der Elektroschocker. Hustenbonbons. Na ja, Dinge eben, die man brauchte.
Der Umschlag, der die Hunde geweckt hatte, ruhte jedenfalls auch noch in dieser Tasche, und als Adrien mir im Auto den Ort des vereinbarten Treffens nannte erschien er mir noch immer schrecklich erschöpft und ausgelaugt.
Was schließlich verständlich war.
Und selbst von ihm verschuldet.
Die Übergabe sollte also simpel funktionieren. Er würde kommen, Ein Zeichen geben um zu zeigen wer er war, den Umschlag überreichen, und einen Umschlag dafür zurück bekommen, den er weiter bringen sollte. An dieser Stelle knirschte ich mit den Zähnen. Das ganze wäre wohl nicht so einfach zu beenden. Meinen Vorschlag die Polizei dazu zu ziehen lehnte er vehement ab.
Wir hielten eine Straße von der _____ entfernt an, an der der Austausch stattfinden sollte. Adrien zögerte mit dem Aussteigen.
„Bleib du hier.“
Ich verengte verärgert die Augen darüber. Hatte er immer noch nicht verstanden, dass ich ihn nicht gehen lassen würde?
“Dann würdest du ja doch nicht wieder kommen.“
„Doch, ich komme wieder. Aber du bleibst hier, das ist zu gefährlich.“
„Versprochen?“
Er nickte. Und bevor er ausstieg und ich ihm den Umschlag reichte, hielt ich ihn noch einmal am Ärmel fest.
„Wenn du nicht wiederkommst, finde ich dich und bring dich zurück.“
Es klang fast ein bisschen nach einer Drohung. Ich schluckte den Gedanken herunter. Und zweifelte ganz klar daran, dass er sein Versprechen hielt. Ja, eigentlich ahnte ich, dass er es im Grunde nur brechen konnte.
Und genau deswegen schlich ich ihm leise und mit gezücktem Elektroschocker hinterher als ich mir sicher war dass er mich in den Schatten nicht sofort sehen konnte.
Schließlich blieb ich hinter einer Straßenecke stehen, von der aus ich die Brücke gut im Blick hatte.
Rötliches Laternenlicht beleuchtete die nächtliche Straße auf der Brücke. Ich erkannte alles nur schemenhaft. Klammerte meinen Blick an Adrien fest um ihn nicht zu verlieren. An dem kalten Stein der Hauswand hinter der ich mich verbarg konnte ich mein Herz schlagen spüren. Es trommelte aufgeregt gegen meinen Brustkorb.
Adrien begrüßte den Blonden, der außerhalb des Lichts stand und so unsichtbar für mich war, mit einer Handbewegung die ich nicht klar erkennen konnte.
Nachtwind streifte mir ums Gesicht. Zerzauste mein Haar. Es roch nach den Ufern der Seine, nach dem Wasser, dem Schmutz der unter der Brücke hauste.
Der Mann mit dem Adrien einige Worte gewechselt hatte trat ins Licht. Und mit ihm gleich zwei andere.
Den ersten erkannte ich an den Rasterlocken.
Ich erschrak ziemlich, hielt die Luft an um mich nicht laut brüllend auf ihn zu stürzen.
Aber ich war mir ganz sicher, dass es einer von Tonys Freunden war. Der Blonde, den ich an der Bar geschlagen hatte, und der mich letztendlich gleichgültig zu Tony nach draußen geschickt hatte.
Dieser musterte jetzt scheinbar längere zeit Adrien und zuckte dann mit den Schultern. Zumindest glaubte ich das, denn gut erkennen konnte ich es nicht.
Was ich allerdings sicher sah waren die beiden größeren Hünen an der Seite des Blonden, die ziemlich finster drein schauten und Adrien letztendlich mit einem Schlag in Richtung Boden beförderten.
Ich presste mir die Hand auf den Mund. Wollte zu ihnen stürmen, und wäre doch nur wieder im Weg gewesen.
Es folgten mehrere Tritte die den Körper des armen Taschendiebes trafen und mich in meinem Versteck jedes Mal zusammen zucken ließen, als hätten die beiden Männer mich getroffen und nicht ihn. Ich biss mir auf die Unterlippe. Zwang mich, den Blick nicht abzuwenden.
Adrien gab sich Mühe, sich halbwegs auf den Beinen zu halten als er wohl wieder aufstand. Der nächste Stoß ließ ihn wieder nach hinten fallen.
Und tiefer.
Dieses Mal schrie ich doch kurz leise auf. Unterdrückte den Ausruf sofort. Wenn ich jetzt auffiel würde ihm das auch nicht helfen.
Er fiel rückwärts die Treppe zum Kai herunter. Ich war erleichtert nicht das Geräusch von aufwirbelndem Wasser zu hören. Scheinbar befand er sich zumindest immer noch auf der Kaifläche unter der Brücke.
Irgendwo im Dunkeln.
Die drei Männer beließen es jedenfalls dabei und wandten sich ab um zu gehen – weg von mir und Adrien.
Kaum dass sie weg waren rannte ich aus meinem Versteck zum Kai. Zu der tiefen und recht steilen Treppe die da in die Schatten führte.
Ich knipste eine Taschenlampe an um im Dunkeln besser zu sehen.
Adrien kauerte noch am Fuße der Treppe und blinzelte ins grelle Licht meiner Taschenlampe als ich diese auf ihn richtete. Seine Lippen waren aufgesprungen und bluteten, er hatte Schrammen und blaue Flecken im Gesicht, und ich war mir sicher dass der Rest seines Körpers den Treppensturz ebenso wenig gut überstanden haben konnte.
Ich kniete mich zu ihm. Er spuckte eine Mischung aus Speichel und Blut in das trübe dunkle Wasser der Seine, auf der sich nur der Mond spiegelte.
„Bist du okay?“
Eigentlich war die Frage doch ziemlich überflüssig. Aber wie es nun Mal meine Art war stellte ich sie trotzdem. Was hätte ich auch sonst sagen können? Vorsichtig berührte ich ihn am Arm. Er wich mir aus.
„So gut wie es einem gehen kann, der eine Treppe runter fällt und geschlagen wurde.“
Es klang ein wenig sarkastisch. Verständlich, dachte ich. Und versuchte ihm aufzuhelfen.
Rang mich zu einem Lächeln durch.
„Lass uns gehen.“
Aber das einzige was er antwortete war ein missmutiges „Warum bist du hier? Du solltest im Auto bleiben.“
Er machte nicht einmal Anstalten sich mit mir ziehen zu lassen. Zog kräftig dagegen.
Ich spürte erst den Schmerz, dann die Wut. Natürlich hatte er nie vorgehabt sein Versprechen zu halten. Wieso auch? Es war ja schließlich nur ein Versprechen an mich! Nur die Polizistin um die er sich ohnehin nicht sorgen würde. Selbst wenn es mir das Herz zerriss, ihn verletzt zu sehen. Ja, sich um ihn zu sorgen war ganz und gar sinnlos. Aber meinem Vorsatz entsprechend versuchte ich weiter, ihn mit zu zerren. Er wehrte sich. Immer noch. Und schwach war er trotz seiner Verletzungen nicht.
„Und du solltest zurück kommen. Wärst du nicht, richtig?“
Trotzig sah er mich an. Im schwachen Licht erkannte ich nicht viel, und ich wollte ihm die Taschenlampe nicht mitten ins Gesicht halten.
„Natürlich nicht. Was will ich bei dir? Ich muss den nächsten Umschlag schon in ein paar Tagen weitergeben. Und du hast gesehen wie sie heute auf die Verspätung reagiert haben.“
Ich schüttelte beharrlich den Kopf. So mitleidslos wie ich konnte.
„Wenn es soweit ist sehen wir weiter. Aber du kommst mit.“
„Nein.“
„Du bist verletzt!“
Das schien ihn allerdings wenig zu kümmern. Er schlug meine Hand weg. Was mich unsagbar kränkte. Als ich das nächste Mal nach seinem Handgelenk griff, hatte ich in der anderen Hand einen kleinen Revolver. Die Waffe fühlte sich kalt und fremd in meiner Handfläche an.
Ich sah ihn unverdrossen an, entlud die Waffe mit einem kleinen Knacken.
Adrien schien doch einen Moment recht erschrocken bevor er sich einfach an mir vorbei schob.
„Du würdest mich eh nicht erschießen.“
„Es reicht dich anzuschießen. Komm jetzt mit.“
Ich eilte ihm nach. Wir standen bald schon oben auf der Brücke, im zarten Licht der Straßenlaterne, und ich konnte seine gequälten Züge jetzt deutlich sehen.
Die Waffe hob ich ihm erneut an die Schläfe. Ich dachte gar nicht daran, sie wegzunehmen.
„Nimm das Ding weg. Du schießt nicht.“, sagte er noch einmal. Seine Überzeugung wirkte aufgesetzt, und er drehte sich erneut um, um in die Richtung zu verschwinden, in die diese Verbrecher auch gegangen waren.
Mich schob er einfach beiseite.
Und ich drückte ab.
Der laute Knall zerriss die nächtliche Stille. Laut und durchdringend.
Ich spürte meine eigene Hand zittern.
War erschrocken von dem Lärm.
Starrte an die Stelle in der Luft, in der wenig zarter Rauch in der Luft schwebte. Sekundenlang.
Adrien derweil ging in die Knie. Mit weit geöffneten Augen und am ganzen Körper zitternd. Bebend.
Und ich starrte immer noch auf die ausgestreckte Waffe, die seinen Kopf nicht verfehlt hätte. Wäre denn eine Kugel darin gewesen.
Ungerührt sah ich auf Adrien herunter und nutzte seine Überraschung um ihn mit den Handschellen einfach an mir fest zu binden.
Rasselnd atmete er aus. Drehte erst langsam den Kopf zu mir. Panisch.
„Wa…“
„Du lebst ja noch“, stellte ich mit einem ordentlichen Hauch von Sarkasmus recht nüchtern fest und zog ihn unsanft auf die Beine. Er knickte beinahe wieder ein.
Sah mich immer noch entgeistert an. Ich gab zu, dass das nicht gerade freundlich gewesen war.
Schließlich war es auch für mich nicht gerade einfach gewesen, auf den Kopf meines Freundes zu zielen und abzudrücken. Allein die Vorstellung, ich könnte ihn wirklich töten, hatte dafür Sorge getragen dass zumindest meine Hand gezittert hatte. Die Theatralik dabei war ein netter Nebeneffekt gewesen.
Nicht zu verachten.
Die Spielzeugknarre mit der Platzpatrone jedenfalls, die direkt neben dem Ohr eines Menschen ziemlich laut sein konnte, steckte ich zurück in meine Handtasche und holte mir stattdessen den Elektroschocker.
Für den Fall der Fälle.
Denn dieser war schließlich keine Spielzeugwaffe.
„Das…ist nicht fair“, bemerkte er mit schwankender Stimme. Ein Paar Schritte humpelte er tatsächlich mit mir mit bevor er sich wieder in die andere Richtung lehnte und versuchte, weg zu kommen.
Dieses Mal zog er mich ein Stück mit.
Es wurde zu einem ziemlichen Ringen zweier Kräfte die versuchten, beide in eine entgegen gesetzte Richtung zu laufen.
Wie Tauziehen.
Ich war der Meinung in der dunklen Nacht aus einigen noch erleuchteten Fenstern Blicke auf mir zu spüren, die sicherlich nicht minder verwundert über das seltsame Mächtespiel auf der Straße waren. Nach all dem Schimpfen, Fluchen, Ziehen und Rangeln schmerze mein Handgelenk. Nervlich war auch ich längst am Ende und verfluchte ihn dafür.
Und letztendlich gewann ich dank des Schockes, den ich ihm verpasst hatte – das das gelungen war machte mich fast ein wenig Stolz und bescherte mir gleichermaßen ein schlechtes Gewissen - , dank der Tatsache dass ich unverletzt und keinen Kater hatte, im Gegensatz zu ihm, und dadurch, dass ich ihm am Ende den Elektroschocker einfach an den Hals hielt, und ganz fest versprach auch wirklich Gebrauch davon zu machen, wenn er jetzt nicht mitkäme.
Alles änderte nichts daran dass er lautstark protestierte und versuchte freizukommen während ich ihn zum Auto zerrte. Dort angekommen war es dann doch nicht mehr allzu schwer ihn hinein zu verfrachten. Das Tauziehen an den dünnen Ketten der Handschellen hatte mich ziemlich angestrengt, und auch ich sah im Fahrerspiegel ziemlich zerzaust und erschöpft aus als ich losfuhr und die Türen zusperrte damit er nicht auf die Idee kam aus dem fahrenden Auto zu springen – was ich ihm mittlerweile sogar zutraute.
Die ganze Fahrt über und auch noch, als wir anhielten und ich den trotzig schweigenden Adrien nach draußen und ins Haus verfrachtete, dachte ich darüber nach, was ich jetzt tun sollte.
Ich wollte ihn nicht flüchten lassen.
Und nicht in dieser Drogengeschichte stecken lassen.
Und die einzige mir sinnvoll erscheinende Lösung war es, ihn zur Polizei zu bringen und deren Mithilfe zu erfragen. Ich biss mir auf die Unterlippe. Schon wieder. Nachdenklich und unsicher, während ich ihn in den Aufzug schob. Immer noch mit gezücktem Elektroschocker der in meiner Hand ruhte und mir ein Gefühl von Sicherheit gab, dass ich in solchen Momenten nicht missen wollte.
Überraschenderweise öffnete meine schlaftrunkene Nachbarin auch noch um zwei Uhr morgens ihre Tür, als ich versuchte meine aufzusperren. Die eine Hand, mit dem Schlüssel, gefesselt an den verletzten Adrien, in der anderen den drohend erhobenen Elektroschocker und mit tot ernstem Gesicht.
Das war das aller, allererste Mal dass ich erlebte, dass Madame Poiris sich wortlos zurück in ihre Wohnung verzog.
Ich war verwundert und fand, dass das auch besser so war. Und am besten sie vergaß schnell wieder, was sie gesehen hatte.
Noch bevor sich die Hunde auf Adrien stürzen konnten, nahm ich ihm den Umschlag wieder ab und sperrte ihn sicher weg. Adrien verfrachtete ich aufs Sofa. Löste die Handschelle um mein Handgelenk und schob das alte Möbelstück eine Weile hin und her bis ich den Eindruck hatte, das ich Adrien am Heizkörper festmachen konnte, und er gleichzeitig halbwegs bequem auf dem Sofa platziert wäre um zu schlafen.
„Lui…hör auf mit dem Blödsinn, das bringt nichts!“
Er versuchte es also noch einmal. Ich verdrehte die Augen und ignorierte seinen Protest. Wir waren beide müde. Sehr.
Davon war ich überzeugt. Ich ließ ihn also so wie er war zurück, notgedrungen noch im Trenchcoat, und verzog mich selbst im Badezimmer, nur um fünf Minuten später mit gekämmtem Haar und im Nachthemd zurück zu kommen.
„Lui, du kannst mich nicht hier lassen, das hat doch keinen Zweck. Ich meine, ich muss es ja doch abgeben, und das kann ich dann doch auch allein machen.“
Eigentlich war seine Argumentation ja logisch. Wenn man das Illegale einfach billigen würde.
Aber das tat ich nicht und wollte ich auch nicht.
„Versuch zu schlafen. Wir reden morgen weiter darüber“, sagte ich nur müde. Er beschwerte sich, dass man so doch unmöglich schlafen konnte und ich hielt ihm vor, dass er das selbst verschuldete.
Dann schloss ich die Tür ab und verschwand im Schlafzimmer.
Das Michael Jackson Plakat riss ich nun endgültig von der Wand und verfrachtete es mit einem entschuldigenden Blick und Tränen der Wut in den Augen in den Mülleimer. Irgendwie hatte der Gute mir mit seinem stetigen professionellen Lächeln ja gute Gesellschaft geleistet. Aber ein Poster konnte mich nicht ewig vor dem Nachdenken retten.

Ich musste mich nicht einmal zwingen, wach zu bleiben. Ganz von selbst stürmten die Gedanken auf mich ein, die Bilder, die Geräusche die ich mir wieder und wieder ausmalte.
Diese Männer hätten Adrien umgebracht, hätten sie es gewollt. Daran bestand kein Zweifel.
Und ich verstand auch, dass sie ihn durchaus aus dem Weg räumen könnten, wenn ich ihn nicht ziehen ließ um dieses Zeug immer wieder abzugeben. Es wäre ein ewiger, gefährlicher, und vor Allem illegaler Kreislauf, den ich nicht verhindern könnte, und ich hätte immer das Gefühl Adrien in einer völlig falschen Welt zu lassen. Würde mich Sorgen.
Und ein schlechtes Gewissen haben.
Und ich ahnte auch, dass er mich meiden würde. Mir nichts darüber sagen würde. Ich ahnte, dass ich nichts mitbekommen würde.
Erschöpft und gequält von gewalttätigen Bildern warf ich mich auf die andere Seite. Starrte aus dem Fenster.
Und stellte bei den Geräuschen, die ich aus dem Wohnzimmer hörte fest, dass ich nicht umsonst gewartet hatte.
Es war ein leises Schaben, ein leises Kratzen und Knarren, und ich konnte nur erahnen dass er sich geschickt wie er war von seiner Fessel befreien wollte. Den Handschellen vertraute ich, allerdings traute ich ihm ohne weiteres zu den halben Heizkörper zu zerlegen um los zu kommen.
Mit einem Seufzen presste ich mir ein Kissen aufs Gesicht und beließ es anfangs dabei so zu tun, als hätte ich nichts gehört.
Als dann aber das Schaben und Kratzen wieder aufhörte, und ich meinte, leise das Sofa knarren zu hören weil sich das Gewicht darauf bewegte, lauschte ich doch wieder aufmerksam.
Griff zu dem Elektroschocker neben mir im Bett.
Ein Blick in den Spiegel versicherte mir, dass ich wirklich müde sein musste. Tiefe Schatten lagen unter meinen Augen. So oder so war es alles andere als hübsch. Ich massierte mir genervt die Schläfen. Trat leise in die Tür zum Wohnzimmer und beobachtete aus dem Schatten heraus wie Adrien versuchte die Wohnungstür aufzukriegen.
Nun, er machte das durchaus professionell.
Aber musste das um diese Uhrzeit denn wirklich noch sein?
Als er mich hörte und sich zu mir umwandte, meinen Namen murmelte, war ich schon neben ihm und hatte Gebrauch von meinem Elektroschocker gemacht. Damit war alles sowohl überraschend einfach, als auch wohltuend ruhig, und ich musste daran denken, dass Gewalt manchmal doch eine nützliche Alternative sein konnte. Für Leute wie ihn.
Ich klaubte den Umschlag erneut aus einer seiner Taschen und platzierte diesen zusammen mit dem Elektroschocker auf meinem Nachttisch, dann legte ich Adriens Arm um meine Schulter und schleppte ihn ins Schlafzimmer.
Die Situation war nicht unbedingt die einfachste. Und nicht unbedingt normal, oder angenehm.
Den bewusstlosen Adrien platzierte ich einfach auf einer Seite des Bettes und machte ihn erneut an dem weniger instabilen Bettgestell fest. Legte mich selbst dann zwischen ihn und den Umschlag und stellte mit einem Seufzen und bitter sarkastisch fest, dass ich nun schon mit dem Taschendieb in einem Bett schlief. Oder was wohl eher auffällig war: Ihn daran fest gekettet hatte.
Aber ich war deutlich zu müde als dass mich darüber jetzt noch beschweren konnte.
Also schlüpfte ich neben ihm unter die Decke, musterte ihn noch einen Moment und entschuldigte mich leise bei dem Bewusstlosen, der mich ohnehin nicht hörte.
Eingeschlafen war ich schnell.

Ich träumte die dunkle Situation an der Brücke noch einmal. Anders. Ich sah zu, wie sie Adrien, der sich am Boden krümmte, traten und auf ihn einschlugen. Ich schrie. Markerschütternd. Laut. Und voller Tränen die sich mit einem Mal lösten. Im Schlaf liefen sie mir brennend heißt über die Wangen.
Dann war plötzlich ich an Adriens Stelle. Ich hatte mir gewünscht, ihm helfen zu können, und mit einem Mal schlugen sie auf mich ein. Ich sah auf.
Hatte Adrien über mir. Der lachte. Mich verspottete. Und als ich blinzelte war es nicht mehr Adrien sondern Tony, der sich abwandte und wegging. Ich sprang trotz all der Schmerzen auf und rannte ihm im Traum nach. Wütend. Ja, blind vor Zorn. Als ich ihn einholte und an der Schulter zu mir herumdrehte war es wieder Adrien. Der sein wundervolles, schiefes Lächeln lächelte und sagte, ich sollte ihn endlich in Ruhe lassen. Sich abwandte. Ging.
Mich allein ließ.
Ich starrte ihm nach. Schrie seinen Namen. Weinte. Und schluchzte stumm bevor ich die Augen wieder aufriss und Adriens Gesicht nur wenig von meinem entfernt gleich wieder sah.
Ich blinzelte einige Male.
Die Hundeaugen starrten mich erschrocken an. Und ich ihn. Ebenso verdutzt. Betrachtete irritiert seine verrenkte Haltung, halb über mir, halb noch an dem Rand des Bettes hängen, da die Fesseln mehr nicht erlaubten. Die eine Hand hatte er neben meinem Kopf abgestützt um gerade noch das Gleichgewicht zu halten. Versuchte, an den Umschlag heran zu kommen.
Ich blinzelte ihn weiter an.
„Äh…Lui, ich…nein…also…“
Mehr brauchte er gar nicht zu sagen. Mit einer Hand schlug ich ihm gegen die Rippen und stieß ihn zurück neben mich aufs Bett. Er murmelte ein „Autsch“. Und ich hielt ihm vor, dass er so spät nachts aufhören sollte, so viel Ärger zu machen.
Ich hatte mich auf die Seite gedreht um ihn direkt ansehen zu können.
Musterte ihn so eine ganze Weile.
Sein Haar, die Augen, seine Lippen, die sonst so wundervoll lächeln konnten. Seine Brust, die sich im langsam ruhiger werdenden Atem hob und senkte.
Ich schloss die Augen bevor ich seinen Namen aussprach und sie wieder öffnete.
Adrien sah mich missmutig an. Wartete.
„Ich bringe dich morgen zur Polizei.“
Er schwieg. Sekundenlang.
Ich hatte selbst nicht erwartet, dass mir das so leicht über die Lippen kommen würde.
Wieso musste er mich immer so verraten?
Wieso konnte er mir nicht einfach vertrauen, und seine Versprechen an mich halten? Konnte er meine Sorge denn nicht einfach verstehen? Ging das denn nicht?
Nein, stattdessen würde er mich verletzen. Wieder und wieder. Und deshalb hatte ich mich entschieden. Ihn zu verraten, um ihn zu retten. Vor dieser ganzen alptraumhaften Drogengeschichte.
Mit Hilfe meines Vaters und der Polizei.
Adriens Hundeaugen starrten mich immer noch an. Blinzelten eher überrascht als erschrocken. Und dann, erst nach Sekunden setzte er sich so ruckartig auf, dass die Kette ihn zurückriss.
„Lui!“
Ich beschloss, einfach nicht hin zu sehen. Drehte mich auf den Rücken. Sah ihn nicht mehr an. Ganz einfach.
„Lui, das…das kannst du nicht machen!“
„Doch.“
„Du hast versprochen, dass du mich nicht verrätst.“
Immer die Anschuldigungen. Gar kein Versprechen musste ich halten, wenn er seine doch auch brach.
„Du hältst deine Versprechen doch genauso wenig. Wir gehen Morgen zum Revier und ich werde ihnen alles erzählen.“
Ich sagte es entschieden. Endgültig. An meiner Entscheidung gab es nichts zu rütteln.
„Nein, Lui, komm schon, dass ist nicht notwendig…“
Er sah mich immer noch an, als warte er, dass ich ihm erklärte es sei ein Scherz gewesen. Also betonte ich es noch einmal.
„Oh doch. Ich habe es satt. Dir kann man nicht vertrauen, es hat überhaupt keinen Sinn noch länger zu warten. Ja, ich kann dich nicht hier behalten. Im Gefängnis wärst du wenigstens sicher.“
Ich drehte mich wieder weg.
„Nein, Lui, nicht, bitte.“
Trotzig antwortete ich nur mit einem Kopfschütteln.
Und wünschte er wäre still. Aber den Gefallen tat er mir noch lange nicht. Ich drehte mich gänzlich weg von ihm. Drehte ihm den Rücken zu.
„Lui, bitte! Nicht zur Polizei, bitte. Die stecken mich ins Gefängnis…ich meine…die verstehen nichts, die sind alle korrupt! Ich will da nicht wieder hin, bitte, Lui.“
Ich reagierte nicht. Grummelte nur, er solle aufhören Polizisten vor mir zu beleidigen.
„Lui! Bitte, ich bleibe auch hier, okay? Ich versuche nicht noch mal, weg zu gehen. Ich bleibe hier, aber nicht zur Polizei, ja? Lui?“
Wütend drehte ich mich wieder zu ihm um.
Er sollte mich endlich schlafen lassen, verdammt!
„Ah ja, kannst du mir das Versprechen? Deine Versprechen sind nichts wert.“
“Ich kann es schwören. Bitte, Lui.“
„Auf was denn schon?“
“Auf…Bobo.“
Ich starrte ihn an. Zunehmend verärgert. Diese Entscheidung hatte mich einiges an Kraft gekostet, und jetzt wollte er auf jemanden schwören der BOBO hieß?! Ich war drauf und dran ihm selbst noch einen Schlag in den Magen zu verpassen.
Dieser Trottel.
Dieser verdammte Dieb.
„Wer zum Teufel ist Bobo?!“
Er dagegen schien meinen Ärger gar nicht zu verstehen.
„Mein bester Freund.“
Ich schüttelte verständnislos den Kopf. Ich hatte noch von keinem besten Freund gehört, der heutzutage Bobo hieß. Und das passte auch sicher nicht zum besten Freund eines Taschendiebes, der auch noch Polizisten drohte und Drogen hin und her trug.
Ich ließ ein Paar Sekunden verstreichen bevor ich erneut entschieden verneinte und ihm erneut nur den Rücken zudrehte.
Michael Jackson hätte ich jetzt doch ganz gern wieder gehabt.
Adrien klang zunehmend verzweifelt. Und fuhr mit seinem Flehen noch minutenlang fort. Versuchte, mich umzustimmen. Bat mich, eine andere Entscheidung zu treffen. Ich hatte es bald schon verstanden. Ja, Hauptsache nicht zur Polizei.
In den nächsten Minuten hörte ich meinen Namen und die Worte „bitte nicht“ oft genug, dass es mich wirklich wütend machte.
Am Ende fuhr ich zu ihm herum und brüllte ihn an.
„Sei verdammt noch mal still und Schlaf endlich! Ich hab mich entschieden, ich bringe dich morgen zur Polizei. Find dich ab damit!“
Meine Stimme war schneidend und selbst für mich zu laut. Verstört drehte ich mich weg.
Und genoss die Stille.
Adrien atmete einige Male schwer aus, schien dann aber bald selbst seinen Atem beruhigt zu haben. Als ich mich wieder umdrehte war er eingeschlafen und lag ganz friedlich da. Voll angezogen und an mein Bett gekettet. Verdammt, dieser Tag war alles andere als normal gewesen. Ich konnte mich kaum daran erinnern, wie es heute Morgen begonnen hatte.
Wehmütig drehte ich selbst mich weg und verdrängte mein schlechtes Gewissen darüber, dass ich ihm in all der Wut nicht alles erzählt hatte.
Ich schlief trotzdem schnell ein. Träumen tat ich nichts mehr. Meinte nur andauernd im Traum zu hören, wie er verstört meinen Namen sagte, und das reichte, um mich die ganze Nacht über davon abzuhalten, wirkliche Ruhe zu finden.

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Nelly

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Biscuit Empty
PostSubject: Re: Biscuit   Biscuit EmptyTue Aug 31, 2010 12:58 pm

-.- jouer -.-

Es war noch recht früher Morgen als ich erwachte und feststellen musste, dass ich mich im Schlaf wohl recht viel bewegt hatte.
Die ersten goldenen Sonnenstrahlen fielen in den Raum. Vielleicht war es sieben.
Oder acht.
Ich wusste eigentlich nur, dass ich nicht lange genug geschlafen hatte. Die Augen behielt ich anfangs geschlossen. Versuchte mich zu strecken und stieß gegen einen warmen fremden Körper neben mir, dessen Anwesenheit mich augenblicklich hell wach werden ließ.
Ich sah auf. Adrien hatte die Augen noch geschlossen und schien noch immer tief und fest zu schlafen. Der Glückliche. Ich dagegen schien nicht unbedingt ruhig geschlafen zu haben. Während ich am Abend ganz an den Rand des Bettes ausgewichen war, lag ich mittlerweile direkt neben ihm und hätte ihn selbst bis an den Rand gedrängt – wäre er denn weggerutscht. So wie er schlief hatte ich eher das Gefühl, er hätte im Schlaf von alledem nichts mitbekommen. Darüber ganz erleichtert schlich ich aus dem Schlafzimmer und kochte Kaffee. Ohne wirklich Kaffee zu wollen.
Der Geruch des Heißgetränkes war jedenfalls beruhigend, und so verbrachte ich die nächsten Minuten mit einer Tasse Kaffee an meinem Küchentisch, die ich eigentlich gar nicht trinken wollte. Nachdem auch nach einer halben Stunde kein Geräusch aus dem Schlafzimmer drang, beschloss ich meinen Vater anzurufen und vorzuwarnen. Mein eigenes Herz schlug hektisch. Hämmerte erbarmungslos gegen meinen Brustkorb.
Tanzte im Takt zu meinem schlechten Gewissen.
Und meiner Wut.
Letztere jedenfalls scherte sich wenig darum, wie viel oder wenig ich Adrien erzählte. Letztere wollte ihn zappeln sehen, und war begeistert von dem Gedanken, meinen Vater vorzuwarnen und einzuweihen.
Besonders begeistert klang der am Telefon natürlich nicht, als ich ihm gleich am Tag nach dem Kennen lernen gestand, wer Adrien war. Was er war. Und wie ich ihn eigentlich kennen gelernt hatte.
Nachdem ich geendet hatte und mich kleinlaut dafür entschuldigt hatte, dass ich ihn belogen hatte, grummelte mein Vater am Telefon nur ein „Ich hab’s geahnt…du kommst ganz nach deiner Mutter“
Ich verstand nicht so ganz worauf er damit hinaus wollte, unterließ es aber mich weiter zu wundern.
Am Telefon bat ich meinen Vater also leise, uns ein wenig seiner kostbaren zeit zu Opfern. Seiner Tochter schlug er natürlich keine Bitte aus und war damit zuverlässig wie immer. Ich hätte ihm gerne einen Kuss gegeben, war ermutigt, dass mein Vater alles verstehen würde. Das ging nicht, vor Allem aber musste ich das Gespräch beenden weil ich mich daran erinnert fühlte, dass ich Adrien irgendwann wecken sollte.
Als ich aufgelegt hatte und ins Schlafzimmer kam waren seine Augen allerdings schon geöffnet und begegneten mir mit dem üblichen Hundeblick den ich ganz ausnahmsweise verfluchte.
Ich schob den Mülleimer mit dem armen Michael Jackson auf seinem Poster in die Ecke und kümmerte mich dann schweigend darum, die Fesseln am Bett zu lösen. Bemüht, nicht über diese dumme Ironie nach zu denken.
Als ich mir damals schwor, Verbrecher fest zu nehmen, hatte ich das eigentlich anders geplant gehabt. Jetzt biss ich mir auf die Unterlippe und wies Adrien schweigend an mit in die Küche zu kommen. Er schaffte es immerhin mit einem halben Lächeln ein „guten Morgen“ zu brummen, was ich versuchte beherzt zu erwidern.
Es scheiterte verständlicherweise kläglich.
Ich stellte ihm eine Tasse Kaffee hin und roch an dem berauschend vollen Duft meiner eigenen.
Kaffee war der beste Geruch, der einen Morgens begrüßen konnte, oder nicht?
Dem Kaffee abgeneigt schien Adrien jedenfalls nicht, Frühstück lehnte er allerdings ab.
Musterte mich eine Weile.
Und ich versuchte, ungerührt drein zu schauen. Verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
Und trauerte über das verlorene Küchenmesser, nur um ihn nicht wirklich beachten zu müssen.
„Lui…hast du...es dir nicht noch mal anders überlegt?“
Wirklich hoffnungsvoll klang das nicht. Ich war froh ihn zumindest nicht enttäuschen zu müssen.
„Nein. Wir fahren in einer halben Stunde, mein Vater wird sich um dich kümmern.“
Das klang doch wirklich ermutigend!
„Na wunderbar.“
Er machte sich nicht mehr die Mühe zu widersprechen, schien eher längst resigniert zu haben. Ich hatte mich bereits gefragt wie er es geschafft hatte, so ruhig zu schlafen. Vielleicht störte ihn der Gedanke, zur Polizei zu kommen, nicht so sehr wie ich erwartete?
Konnte ein Dieb und Drogenkurier denn ruhig sein, wenn er der Polizei übergeben wurde?
War es unmenschlich von mir, überhaupt darüber nach zu denken, nachdem ich doch nicht vorhatte, ihn her zu geben? Und ich bereits mit meinem Vater gesprochen hatte?
Dass ich mit meinem Vater telefoniert hatte, teilte ich ihm nüchtern mit und verschwand für eine Weile im Badezimmer.
Nachdem wir eine halbe Stunde beinahe tatenlos hatten verstreichen lassen, brachte ich ihn mit vor dem Körper gefesselten Händen zum Auto. Eigentlich schien es mir eher, als wäre das unnötig.
Ich verstand nicht recht, was in dem Moment in seinem Kopf vorging. Nicht, dass er wirklich ruhig gewirkt hätte. Oder begeistert. Wie hätte er auch?
Seine schnelle Resignation allerdings enttäuschte mich doch etwas. Insbesondere weil ich ahnte dass ich mich letztendlich leicht von meinem Vorhaben hätte abbringen lassen.
Die Fahrt über schwieg er und unterließ es sogar, mit den Knöpfen zu spielen, was für mich das beste Zeichen war, dass er vermutlich zumindest nachdachte. Ich spielte mit dem Gedanken das Radio laut zu drehen um meine eigenen Gedanken davon zu spülen, die sich nutzlos im Kreis drehten und keinen richtigen Sinn ergaben.
Radio brachte dann allerdings doch nicht, nachdem ich mir drei Minuten mit Adrien zusammen angehört hatte, welche Strafen über die Verbrecher dieser Erde verhängt wurden. Was gute Neuigkeiten für mich waren, ließen mich gleichzeitig wieder darüber grübeln, ganz unvorbereitet, was im Kopf eines Verbrechers darüber vorgehen musste.
Dabei interessierte mich eigentlich nur der Inhalt des wuscheligen Kopfes neben mir.
Den ich gern berührt hätte.
Weil sein Haar so weich war.
Ich schob den Gedanken beiseite. Das Schweigen ließ die Minuten langsamer verstreichen. Der Weg zum Revier kam mir mit einem Mal schrecklich lang vor, und mir kam der Gedanke, dass die Zeit zu einem Lied tanzte, das langsam und schwer wurde, wenn sich die Stimmung verschlechterte, und tanzte und hüpfte, nur so dahin floss, wenn das Lied fröhlich sein sollte.
Es war eine schreckliche Ironie, dass es so war, und im Grunde unfair. Ja, unfair war es. Wie langsam verstrich die Zeit in einem Gefängnis?
Oder wenn man um die Zukunft fürchtete?
Ich konnte es mir nicht vorstellen, aber ich wusste wie quälend langsam die Zeit dahin schlich, wenn man auf etwas wartete. Oder auf jemanden.
Jemanden, den man mochte.
Und vermisste.
Nein, ich wolle nicht, das Adrien hinter Gittern landete. Wäre das nicht reiner Selbstmord gewesen?
Der Gedanke ließ mich vor Wut und Unsicherheit rot anlaufen. Der Taschendieb neben mir schien es nicht zu bemerken. Starrte immer noch nach unten.
Wir parkten auf dem Parkplatz des Präsidiums.
Mein Vater mit seinem vor Aufregung ähnlich rotem Gesicht erwartete uns bereits an der Tür.
Mit dem Blick eines Henkers.
Und einer Stimme, die selbst für ihn ungewöhnlich ernst war. Ich senkte den Blick. Und zog Adrien neben mir her.
Der sich willig mitziehen ließ.
Er bedachte meinen Vater mit einem halbherzigen Grinsen, dass mir das Herz gebrochen hätte, hätte ich es nicht direkt darauf angelegt.
„Tut mir Leid, dass ich ihnen dieses Mal nicht die Hand geben kann.“
Die Lippen meines Vaters waren eine strenge Linie in dem geröteten Gesicht, das alles andere als freundlich wirkte. Weil Adrien ihn ja enttäuscht hatte. Und seiner Tochter ein schlechter Freund gewesen war.
Ja, so sah es aus.
Die Stirn des Inspektors war nachdenklich in Falten gelegt. Wir steuerten auf ein Sprechzimmer an, dass mit seinen kargen Wänden, drei Stühlen und einem einzigen Tisch als Raum für Verhöre perfekt und wirklich Filmreif geeignet war.
Ich sah mich um als wir durch die Cafeteria liefen. Nicht nur mir fiel auf, wie schweigsam alle waren.
Es herrschte eine Stille, die schon an einen Friedhof erinnerte. Und mein Vater spielte den perfekten Henker. Er hatte eben die Tür geöffnet und Adrien vor mir hereingebeten, der noch immer brav folgte ohne Anstalten des Widerstands zu leisten, als etwas auf mich und Adrien zugesprungen kam, mit dem ich nicht gerechnet hatte, dass ihre Rolle aber ganz ausgezeichnet spielte.
Adrien sah Jaqueline mit einer Mischung aus langsamen Erkennen und Überraschung an. Mir ging es ähnlich. Ich hatte ja nicht wissen können, dass man sie so schnell benachrichtigt hatte.
Dass sie hergekommen war.
Und hier sein wollte.
Um Adrien zu sehen, und sich zu versichern, dass ich tatsächlich vorhatte, was ich da androhte.
Ihn auszuliefern. Zu verraten. Ich lächelte Jaqueline beschwichtigend zu, die bereits begonnen hatte laut auf mich und meinen Vater einzureden, und Adrien so sehr in Schutz nahm, dass dieser ja nicht wirklich anders konnte als sie verdutzt anzusehen.
Immerhin kannte er sie nicht.
Und konnte gar keine Ahnung haben, was für einen Narren meine Cousine an ihm gefressen hatte. Und an dem Gedanken, er könnte tatsächlich so etwas wie die schicksalhafte Liebe meines Lebens sein. So etwas Lächerliches.
„Jaqueline, jetzt beruhige dich.“, brachte ich sie nach einer guten Minute zum Schweigen. Sie sah mich mit vorwurfsvollen Rehaugen an.
„Lui! Warum machst du das, ich dachte, du magst ihn!“
“Ich mag ihn.“
Adrien registrierte es schweigend.
„Aber ich bin Polizistin.“, ich sagte es stolz und überzeugt, obwohl ich ja eigentlich gar keine Polizistin war. Noch nicht. Jaqueline schmollte.
Sagte zu Adrien: „Mach doch etwas!“
Dieser allerdings konnte ja schlecht etwas machen.
Ich legte Jaqueline eine Hand auf die Schulter. Mein Vater strich sich tot ernst über den Schnauzer.
Über der Cafeteria lag bedrohliches Schweigen.
Und Jaqueline schien langsam zu verstehen.
Ich war ihr dankbar, dass sie sich das „Oh!“, verkneifen konnte. Sich nur beleidigt von mir abwandte und brav weiter enttäuscht aussah.
„Dann wird er ins Gefängnis kommen.“, schlussfolgerte sie. Es klang nicht ganz wie eine Feststellung. Mehr wie eine noch hoffnungsvolle Frage. Ich nickte.
Mein Vater bestätigte es ähnlich.
„Und ihr werdet euch nicht wieder sehen.“
Obwohl ich das nicht plante versetzte es mir einen Stich.
Ich wimmelte Jaqueline ab, die sich bereitwillig in die Obhut von Manon und Jeanne, zweier junger Polizistinnen begab, und mit diesen laut über den Vorfall diskutierte während ich Adrien jetzt doch nach drinnen schob und die Tür hinter mir schloss.
Es war augenblicklich wieder still.
Wir nahmen Platz auf den drei Stühlen, ich und Adrien meinem Vater gegenüber, sodass ich mich fühlte als würde ich selbst verhört werden.
Inspektor Petit nahm Adriens Personalien auf.
Was mich aufhorchen ließ.
Gespannt.
Adrien Chevrier.
Das war also sein Nachname. Ich war stolz, das endlich erfahren zu haben. Er versicherte, keine Papiere zu haben, bestätigte eine Festnahme vor einigen Jahren und mein Vater starrte ihn eine ganze Weile wie ein Gespenst an.
Adrien räusperte sich.
„Ja…ähm….das damals tut mir Leid.“
Ich verstand nicht, wovon sie sprachen, und wieso mein Vater, der seinen Humor glücklicherweise noch nicht ganz verloren hatten, plötzlich ernsthaft verärgert aussah.
„Ja…damals…was war da noch mal?“, fragte ich deswegen, winkte mit einer Hand kurz nach der Aufmerksamkeit der beiden.
Adrien rutschte auf seinem Stuhl unruhig hin und her. Und antwortete dann an Stelle meines Vaters.
„Ich…bin damals…schon mal wegen Diebstahl gesessen und nach zwei Monaten ausgebrochen. Das…hat deinem Vater beinahe die Beförderung gekostet.“
Er zischte es mir eher zu als es wirklich laut vor meinem Vater auszusprechen. Ich musste schmunzeln. Über den Zufall. Scheinbar hatte er gehofft, dass der Inspektor sich nicht erinnern würde.
Dieser schlug die Unterlagen so laut auf den Tisch, dass auch ich zusammen zuckte, und fuhr dann fort.
Wütend und gnadenlos.
„Sie stehlen regelmäßig Schmuckstücke von Leuten auf der Straße.“
Eigentlich war es keine Feststellung.
„Nur keine Eheringe.“, murmelte Adrien. Stimmte aber zu.
„Und sie haben eine Polizistin bedroht.“
Er sprach wirklich drohend, und ich war richtig stolz auf das Schauspielerische Talent meines Vaters.
Adrien warf mir einen kurzen Blick zu, gestand aber auch das. Und die Sache mit den Drogen, dass er den Kurier spielte, dass er sie nicht kannte, dass er nicht viel Wahl hatte, gestand er auch. Stritt gar nichts ab.
Vermutlich war das angesichts der ohnehin drohenden Strafe die beste Lösung.
Während des Gespräches bestätigte ich selbst nur manchmal die Aussagen und ergänzte geringfügige Informationen.
Nachdem das Gespräch auf diese Weise eine gute Dreiviertelstunde totschlug breitete mein Vater noch ein weiteres Mal die Geständnisse und damit Fakten vor dem Taschendieb aus. Der wieder nur alles bestätigte. Und dann die Zeit genannt bekam, die ihm das hinter schwedischen Gardinen einbringen konnte.
Es kamen da einige Monate zusammen.
Die mir wieder ein schlechtes Gewissen bescherten.
Wie in einem alten Schwarzweißfilm flackerte die Neonröhre über uns fröhlich zu dem bedrohlichen Schweigen das sich ausbreitete.
Adrien wartete schweigend.
Ich hätte nicht sagen können ob das ganze Bild mir oder ihm mehr Angst machte. Aber ich genoss seine Verwunderung als ich dann sprach. Kostete den Moment kurz aus.
„Außer…“
Wieder kurzes Schweigen. Papa sah in meinen Augen nicht mehr wirklich bedrohlich aus.
Adrien wiederholte „Außer?“
„Du hilfst uns, diese Gang zu schnappen.“
Mein Vater lehnte sich zurück. „Wir suchen diese Kerle schon seit einer Weile, hatten aber keine näheren Hinweise. Sollten wir sie mit ihrer Hilfe kriegen, vergessen wir noch einmal was ihnen zu Schulden kommt.“
Eigentlich war ich der Meinung, das wäre ein Angebot dass niemand auszuschlagen brauchte.
Das ihn retten würde.
Und mich gleich obendrein.
Für mich war es die optimale Lösung. Ohne Adrien zu verraten half ich der Polizei, zu der ich irgendwie gehörte. Und war stolz, dass das so funktionieren konnte. Weil er so nicht gehen musste.
Mich nicht meiden musste.
Adrien fragte trotzdem langsam: „Und wenn ich mich weigere, zu helfen…?“
Und mein Vater sagte mit schauspielerischer Glanzleistung und Grabesstimme: „Dann verschwinden sie im Gefängnis. Für lange, lange Zeit.“
Und betonte es mit einem Lächeln dass versicherte, das er dafür schon sorge würde.
Adrien schluckte und schlug das Angebot dann natürlich nicht aus. Ich erbot mich, ihn über die Zeit der weiteren Ermittlungen im Auge zu behalten und versprach, Fehlverhalten zu melden. Als wir das Verhör verließen, herrschte bei den wenigen Anwesenden in der Cafeteria der gewohnte, heimische Lärm und angeregtes Reden.
Von der vorangegangenen Stille schien jedenfalls nichts mehr übrig zu sein. Adrien musterte mich anschuldigend.
„Du hattest das von Anfang an vor, oder?“
Ich nickte.
„Natürlich. Du hast doch nicht geglaubt ICH würde MEIN Versprechen brechen.“
Böse sah ich ihn an. Warf seine Anschuldigung zurück. Er sah noch immer ein wenig beleidigt aus.
Und erleichtert.
„Wieso hast du nichts gesagt?“
„Das war die Rache dafür, dass du mich belogen hast.“
Ich grinste. Und wuschelte ihm durch die Haare.
Und weil jetzt doch im Grunde alles gut war, war die Welt für einen kurzen, glücklichen Moment rosarot und ganz ohne Leid.

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